In kalter Absicht
heiser. »Kim Sande Oksøy. Seine Mutter hat ihn in ihrem eigenen Keller entdeckt. Eingewickelt in einen Müllsack. Der Mörder hatte eine Nachricht dazugelegt. Du hast bekommen, was du verdienst.«
Inger Johanne riß sich die Brille ab. Sie wollte nicht sehen. Sie wollte auch nicht hören. Sie sprang auf und streckte blind die Hand in Richtung Tür aus.
»Das stand auf dem Zettel«, sagte Yngvar Stubø. » Du hast bekommen, was du verdienst . Finden Sie noch immer, daß das alles Sie nichts angeht?«
»Lassen Sie mich gehen. Lassen Sie mich raus hier.«
Sie ging mit unsicheren Schritten zur Tür und tastete nach der Klinke, die Brille noch immer in der rechten Hand.
»Natürlich«, hörte sie ihn wie aus weiter Ferne. »Oskar wird Sie nach Hause fahren. Danke, daß Sie gekommen sind.«
11
Emilie konnte nicht begreifen, warum Kim nicht mehr da war. Das war ungerecht. Sie war als erste gekommen, und deshalb hätte sie auch als erste wieder gehen müssen. Außerdem hatte Kim Cola bekommen, während sie lauwarme Milch und nach Eisen schmeckendes Wasser trinken mußte. Alles schmeckte nach Eisen. Das Essen. Ihr Mund. Sie schmatzte und saugte an ihrer Zunge. Es schmeckte nach Geld. Nach Münzen, die schon lange in der Tasche gelegen hatten. Lange, lange. Lange war sie schon hier. Viel zu lange. Papa suchte nicht mehr. Papa hatte sicher aufgegeben. Mama war nicht im Himmel, sondern in einer Urne, wo sie zu Asche und zu Nichts geworden war und wo es sie nicht mehr gab. Es war so hell. Emilie rieb sich die Augen und versuchte, das grelle Lampenlicht auszusperren. Sie wollte schlafen. Sie schlief fast die ganze Zeit. Das war besser so. Dann träumte sie, und außerdem aß sie fast nichts mehr. Ihr Magen war geschrumpft und hatte nicht einmal mehr Platz für Tomatensuppe. Der Mann wurde böse, wenn er die vollen Teller abholte. Nicht schrecklich böse, aber ziemlich ärgerlich.
Kim hatte nach Hause gedurft.
Das war ungerecht, und Emilie konnte es nicht verstehen.
12
Yngvar Stubø mußte sich zusammenreißen, um den nackten Leichnam nicht zu berühren. Seine Hand streckte sich nach der Wade des Jungen aus. Er wollte über die glatte Haut streichen. Er mußte sich vergewissern, daß in dem Kind kein Leben mehr war. So, wie der Junge dalag, auf dem Rücken, mit geschlossenen Augen und leicht schräg geneigtem Kopf, die Arme an den Seiten, die eine Hand halb zur Faust geballt, die andere offen, mit der Handfläche nach oben, als erwarte er etwas, ein Geschenk, einen Leckerbissen … Das Kind hätte auch lebendig sein können. Der Obduktionsschnitt über dem Brustbein, T-förmig bis hinunter zu dem kleinen Geschlechtsorgan, war sorgfältig wieder geschlossen worden. Die Blässe des Gesichts konnte an der Jahreszeit liegen; der Winter war gerade erst vorbei, und der Sommer ließ auf sich warten. Der Mund des Jungen stand halb offen. Stubø ertappte sich bei dem Wunsch, das Kind küssen zu wollen. Er wollte dem Jungen Leben einhauchen. Er wollte um Verzeihung bitten.
»Scheiße«, sagte er halb erstickt in seine Handfläche hinein. »Scheiße. Scheiße.«
Der Pathologe schaute ihn über den Brillenrand hinweg an.
»Daran gewöhnen wir uns nie, was?«
Yngvar Stubø gab keine Antwort. Seine Fingerknöchel waren weiß, und er schniefte ein wenig.
»Ich bin soweit«, sagte der Pathologe und streifte seine Latexhandschuhe ab. »Ein hübsches kleines Kind. Fünf Jahre alt. Da kannst du absolut Scheiße sagen. Was aber auch nicht viel hilft.«
Stubø hätte sich gern abgewandt, brachte es aber nicht fertig. Vorsichtig senkte er die rechte Hand über das Gesicht des Jungen. Das Kind schien zu lächeln. Stubø berührte sein Gesicht mit dem Zeigefinger, ganz leicht, langsam, ließ den Finger vom Augenwinkel zum Kinn hinunterwandern. Die Haut hatte schon eine wächserne Festigkeit angenommen; sie fühlte sich unter seinen Fingerkuppen eiskalt an.
»Was ist passiert?«
»Ihr habt ihn nicht rechtzeitig gefunden«, sagte der Pathologe trocken. »Strenggenommen ist es wohl das, was passiert ist.«
Er deckte die Leiche mit einem weißen Laken zu. Darunter wirkte das Kind jetzt noch kleiner. Sein Körper war so schmal, er schien unter dem steifen Stoff fast zu schrumpfen. Der Stahltisch war für Erwachsene berechnet. Der Stahltisch war gerade lang genug für einen erwachsenen Menschen, der die Verantwortung für sich selbst tragen konnte, der vielleicht einem Herzanfall erlegen war; verursacht von fetthaltiger Nahrung und zu
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