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In kalter Absicht

In kalter Absicht

Titel: In kalter Absicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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    Tønnes Selbu ließ seine Finger über Emilies Bett wandern, über die Buchstaben, die sie mit Filzstift auf das helle Holz geschrieben hatte, als sie gerade das Alphabet entdeckte. Er hätte gern ihren Schlafanzug an sein Gesicht gedrückt. Aber das war unmöglich. Ihren Geruch hätte er nicht ertragen können.
    Er wollte sich in Emilies Bett legen. Das schaffte er nicht. Aber er konnte auch nicht aufstehen. Er fühlte sich wie gerädert. Vielleicht sollte er Beate ja doch anrufen. Vielleicht mußte jemand kommen, jemand, der die Leere füllen konnte, die ihn einhüllte.
    Tønnes Selbu blieb auf dem Bett seiner Tochter sitzen. Er betete, intensiv und lange. Nicht zu Gott, der war eine fremde Gestalt und trat nur in den Märchen auf, die er Emilie erzählte. Er betete zu seiner verstorbenen Frau. Er hatte nicht gut genug auf Emilie aufgepaßt, und das hatte er Grete doch in der Stunde vor ihrem Tod versprochen.

15
    Ein Mann näherte sich dem Reihenhaus. Die roten und weißen Absperrbänder waren noch nicht entfernt worden. Hier und dort hatten sie sich losgerissen. Im Nachtwind flatterten die verblichenen Plastikstreifen dem Mann entgegen, der langsam über den Zaun kletterte und sich im Gebüsch versteckte. Er schien eine klare Vorstellung von seinem Ziel zu haben, aber nicht den richtigen Mut zur Tat aufbringen zu können. Wenn jemand ihn gesehen hätte, wäre ihm wohl zuerst seine Kleidung aufgefallen. Er trug einen dicken Rollkragenpullover unter seiner Steppjacke. Sein Kopf war bedeckt von einer riesigen Mütze mit Ohrenklappen und einem Schirm, der ihm tief über die Augen hing. Die Stiefel hätten besser zu einem Soldaten in einem Winterkrieg gepaßt, sie waren ungeheuer klobig und bis weit die Waden hoch geschnürt. Aus ihren Schäften ragten grobe Wollsocken hervor.
    Es war die Nacht zum 20.   Mai, und mildes Wetter von Südwest hatte es vierzehn Grad warm werden lassen. Es war zwanzig vor zwölf. Der Mann blieb stehen, geschützt von einem Stachelbeerstrauch und zwei halbhohen Birken. Dann streifte er einen Handschuh ab. Langsam schob er die rechte Hand in seine weite Tarnhose. Er versuchte seinen Blick auf das Fenster im Erdgeschoß zu richten, dessen Vorhänge geschlossen waren. Das war nicht richtig. Er wollte den grünen Teddy sehen. Der Mann konnte sich nicht mehr darüber ärgern, stöhnend sackte er in sich zusammen. Er zog die Hand aus der Hose. Zwei Minuten blieb er ganz still stehen. Er hatte heftiges Ohrensausen und mußte die Augen schließen, obwohl er Angst hatte. Dann zog er den Handschuh wieder an, kletterte über den Zaun und ging durch die kleine Seitenstraße, ohne sich auch nur einmal umzusehen.

16
    Als Inger Johanne Vik am Samstag, dem 20.   Mai, aufstand, war es schon ziemlich spät. Jedenfalls für Kristiane. Die Kleine erwachte immer in aller Herrgottsfrühe, unter der Woche wie auch am Sonntag. Obwohl die Sechsjährige diese frühen Morgenstunden offenbar gern für sich hatte, kam ihr nicht in den Sinn, daß es möglich sein könnte, die Mutter nicht zu wecken. Ein rhythmisches dam-di-rum-ram aus dem Wohnzimmer war Inger Johannes Wecker. Doch Kristiane wollte um diese Zeit nichts mit ihr zu tun haben. Von sechs bis acht war sie nicht ansprechbar. Als Inger Johanne wieder angefangen hatte zu arbeiten, nachdem Kristiane nicht mehr lebensgefährlich krank war, hatte sie es höllisch schwer gefunden, das Kind morgens für den Kindergarten fertig zu machen. Am Ende hatte sie es aufgegeben. Kristiane brauchte diese beiden Stunden für sich. Die Universität ermöglichte flexible Arbeitszeiten. Außerdem war ihr Antrag bewilligt worden, sich jedes zweite Semester freinehmen zu können, bis Kristiane zehn wurde. Ihre Freundinnen beneideten sie – mach dir doch ein schönes Leben, lautete ihr Rat; jetzt hast du die Möglichkeit, in aller Ruhe die Zeitung zu lesen und auszuschlafen, ehe dein Tag beginnt. Das Problem war nur, daß Kristiane Aufsicht brauchte. Schließlich war ihr alles zuzutrauen. Inger Johanne wußte, daß Isak das nicht so ernst nahm. Zweimal hatte sie ihn im süßen Schlummer ertappt, während Kristiane ganz allein umhertrottete.
    Und jetzt war ihr das selbst passiert.
    Verwirrt schielte sie auf die Armbanduhr. Viertel vor neun. Sie zwang sich zum Aufstehen.
    »Mama«, sagte Kristiane glücklich. »Mama steht auf für ihre Kristiane.«
    Die Kleine stand fertig angezogen in der Zimmertür. Zwar hatte sie sich für einen grauenhaften rosa Pullover entschieden,

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