In kalter Absicht
durfte er. Beate und Gretes alte Freundinnen kümmerten sich um alles. Am Vortag hatte seine Schwiegermutter ihm zu allem Überfluß ein Bad eingelassen. Er war in das glühendheiße Wasser gestiegen und hatte halbwegs erwartet, daß irgendeine Frau aus dem großen Nichts auftauchte und ihm den Rücken wusch. Ihn abschrubbte. Er blieb in der Wanne, bis das Wasser nur noch lauwarm war. Dann rief Beate. Am Ende klopfte sie ängstlich an die Tür.
Er hatte seine eigene Zeit verloren. Sie wollten ihn nicht in Ruhe lassen, die anderen. Schließlich war er wütend geworden. In seiner Wut hatte er alle aus dem Haus gejagt. Das war ein gutes Gefühl gewesen, denn dabei spürte er, daß er noch immer existierte.
Er legte die Hand auf die Klinke.
Emilies Zimmer.
Er war nicht mehr dort gewesen, seit dem allerersten Nachmittag, als die Kleine verschwunden war und er ihr Zimmer auf den Kopf gestellt hatte, um eine Spur zu finden, einen Schlüssel, einen Code, der ihm sagen würde, daß Emilie sich nur einen Jux machte. Sie war dabei zu weit gegangen, natürlich, aber sie wollte doch nur einen Witz machen, ihm ein bißchen Angst einjagen, damit sie es sich am Abend ganz besonders gemütlich machen konnten, weil sie doch wußten, daß Emilie niemals wirklich verschwinden würde. Er leerte ihre Schubladen. Die Bücher fielen auf den Boden, die Kleider landeten draußen auf dem Flur. Am Ende krempelte er ihr Bettzeug um und riß das Disneyworld-Plakat von der Wand. Es gab kein Rätsel, kein Rebus, keine Antwort und keine Spur. Nichts, was gelöst werden könnte. Emilie war verschwunden, und er rief die Polizei an.
Das kalte Metall brannte unter seinen Handflächen. Er hörte seinen Herzschlag gegen das Trommelfell donnern, als wüßte er nicht so recht, was sich hinter der vertrauten Tür befand, auf der Emilies Name mit Holzbuchstaben angebracht war; das M war vor einem halben Jahr heruntergefallen, und er las E-ilie, E-ilie. Morgen würde er ein neues M kaufen.
Beate hatte aufgeräumt. Als er endlich ins Zimmer ging, lag alles dort, wo es hingehörte. Die Bücher standen im Regal, sortiert nach den Farben, Emilie wollte das so. Das Bett war gemacht. Die Kleider hingen im Schrank. Sogar der Ranzen, den die Polizei zunächst beschlagnahmt hatte, war jetzt wieder da, er lag vor dem Schreibtisch auf dem Boden.
Vorsichtig setzte er sich auf die Bettkante. Noch immer pochte das Blut in seinen Ohren, und er versuchte, sich aufs Entspannen zu konzentrieren.
Die Polizei hielt alles für seine Schuld.
Nicht, daß sie ihm irgendwelche Vorwürfe gemacht hätten. Anfangs, während der ersten Tage, war er sich vorgekommen wie ein psychisch Kranker, mit dem alle schonend umgehen mußten, oder wie ein Verbrecher, auf dem ein starker Verdacht lastete. Sie schienen die ganze Zeit zu befürchten, er könnte sich das Leben nehmen, weshalb sie ihn mit ihrer Fürsorge fast erstickten. Zugleich sahen sie ihn auf eine seltsame Weise an, ihre Fragen hatten einen bohrenden Unterton.
Bis der kleine Junge verschwand.
Sofort änderten die Polizisten ihr Verhalten, sie schienen endlich begriffen zu haben, daß seine Verzweiflung echt war.
Dann wurde der kleine Junge gefunden.
Als zwei Beamte ihm mitteilten, daß der Junge tot war, kam er sich vor wie ein Examenskandidat. Als wäre er schuld, daß Kim Sande Oksøy tot war, wenn er jetzt nicht präzise alle Fragen beantwortete und genau das Gesicht machte, das zu einer solchen Situation paßte. Zu einer solchen Situation?
Sie hatten ihn gebeten, eine Liste aufzustellen. Von allen Personen, die er jemals kennengelernt hatte. Er sollte mit dem unmittelbaren Umfeld anfangen, mit der Familie. Danach mit guten Freunden. Danach mit den etwas weiter entfernten, dann mit Bekannten, guten und weniger guten, mit Exfreundinnen, flüchtigen Bekanntschaften, Kollegen und Frauen von Kollegen. Es war unmöglich.
»Das ist unmöglich«, hatte er gesagt und hilflos die Arme ausgebreitet. Er war bei seiner Schulzeit angekommen und konnte sich nur an die Namen von vier Klassenkameraden erinnern. »Ist das denn wirklich nötig?«
Die Polizisten hatten Geduld gezeigt. »Wir bitten Kims Eltern um dasselbe«, sagten sie ruhig. »Dann vergleichen wir die Listen. Stellen fest, ob es gemeinsame Bekannte gibt. Oder jemals gegeben hat. Das ist nicht nur nötig. Es ist auch sehr wichtig. Wir glauben, daß beide Fälle miteinander zu tun haben, und deshalb müssen wir mögliche Berührungspunkte zwischen den Familien
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