In kalter Absicht
Kind. Eins, das es wirklich verdient hatte, sagte die Großmutter. Das wußte er noch genau. Die Mutter widersprach nicht. Jemand hatte ihm ein Geschenk geschickt. Es gehörte ihm, aber er durfte es nicht behalten. Er war vier Jahre alt.
Sein Gesicht im Spiegel sah verhärmt aus. Aber so fühlte er sich wirklich nicht. Er fühlte sich stark und entschlossen. Die Cornflakes-Packung war leer. Die Kinder würden fasten müssen, bis er nach Hause kam. Das würden sie schon aushalten.
26
Inger Johanne hatte den ganzen Abend gearbeitet, wenn auch nur halb konzentriert. Der Nachtportier vom Augustus Snow Inn war ein Jüngling, der zweifellos ein falsches Alter angegeben hatte, um diesen Job zu bekommen. Seinem Schnurrbart hatte er offenbar mit Wimperntusche nachgeholfen. Im Laufe des Abends hatte der Schnauzer an Kraft verloren. Schwarze Flecken zeichneten sich um die Nasenflügel des Knaben ab, der seine Mitesser nicht in Ruhe lassen konnte. Er hatte ihr das Paßwort für den Internetanschluß des Hotels genannt. Inger Johanne konnte sich vom Zimmer aus einloggen. Wenn sie Probleme hatte, konnte sie einfach den Zimmerservice anrufen. Der Junge lächelte breit und fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über den Schnurrbart. Der war inzwischen fast verschwunden.
Sie müßte eigentlich müde sein. Sie gähnte bei dieser Vorstellung. Sie war zwar schläfrig, aber nicht so wie sonst. Der Jetlag machte ihr normalerweise viel mehr zu schaffen. Es war schon zwei Uhr nachts, und sie rechnete aus, wie spät es wohl zu Hause war. Acht. Kristiane war jetzt schon seit zwei Stunden auf. Sie schwirrte durch Isaks Wohnung, zusammen mit dem neuen Hund, während Isak sicher noch schlief. Der Hund hatte alles vollgepißt, und Isak würde die Pfützen von selbst verdunsten lassen, ohne sich die Mühe zu machen, alles aufzuwischen.
Gereizt massierte sie sich den Nacken und ließ ihre Augen durch das Zimmer schweifen. Auf dem Boden, direkt vor der Tür, lag ein Zettel. Der hatte sicher schon bei ihrer Rückkehr dort gelegen. Die Treppe zum zweiten Stock war alt und knackte heftig. Sie hatte aber nichts gehört. Hier oben war sie der einzige Gast, das Zimmer gegenüber war leer und dunkel. Sie hatte sich dreimal Kaffee geholt, war in ihrem Zimmer aus und ein gegangen, aber den Zettel hatte sie nicht bemerkt.
Er war um 6 PM verfaßt worden. Also um sechs Uhr abends.
Please call Ingvard Stubborn. Important. Any time. Don’t mind the time difference.
Stubborn. Stubø. Yngvar Stubø. Auf dem Zettel waren drei Telefonnummern notiert. Privat, Dienst und Handy, wie sie annahm. Sie würde keine davon anrufen. Sie strich mit dem Daumen vorsichtig über seinen Namen. Dann knüllte sie den Zettel zusammen. Statt ihn wegzuwerfen, schob sie ihn rasch in ihre Hosentasche und wandte sich dann den Internetseiten von Dagbladet zu.
Ein kleines Mädchen war verschwunden. Noch eins. Sarah Baardsen, acht Jahre alt, war zur Hauptverkehrszeit aus einem vollbesetzten Bus entführt worden, als sie zu ihrer Großmutter unterwegs war. Bisher hatte die Polizei keinerlei Spuren. Die Öffentlichkeit tobte. Im Umkreis der Hauptstadt, von Drammen bis Aurskog, von Eidsvoll bis Drøbak, waren bis auf weiteres alle freiwilligen Aktivitäten für Kinder eingestellt worden. Die Begleitung von Kindergruppen auf dem Schul- und Heimweg wurde organisiert. Einige Eltern verlangten finanzielle Entschädigung dafür, daß sie zu Hause blieben, die Schulfreizeiteinrichtungen konnten nicht dafür garantieren, daß die Kinder ununterbrochen unter verläßlicher Aufsicht standen. Es gab nicht genug Personal. Die Osloer Taxiunternehmen hatten spezielle Kindertaxis bereitgestellt, deren Fahrerinnen bevorzugt Mütter mitnahmen, die allein mit Kindern unterwegs waren. Der Ministerpräsident mahnte zu Ruhe und Besonnenheit, während der Kinderombudsmann im Fernsehen weinte. Eine Hellseherin wollte Emilie in einem Schweinekoben gesehen haben, eine schwedische Kollegin pflichtete ihr bei. Es gebe mehr zwischen Himmel und Erde, als man auch nur ahnen könne, erklärte der Norwegische Bauernverband und versprach, noch vor dem Wochenende alle Schweineställe im ganzen Land durchzukämmen. Eine Vertreterin der Rechtspopulisten, die von der Südküste stammte, stellte im Parlament allen Ernstes einen Antrag auf die Wiedereinführung der Todesstrafe. Inger Johanne merkte, wie ihre Unterarme sich mit Gänsehaut überzogen, und krempelte ihre Pulloverärmel herunter.
Natürlich würde sie Yngvar
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