In kalter Absicht
lächelte abwartend, als sie die Haustür einen Spaltbreit öffnete.
»Worum geht es?«
»Wie gesagt, mein Name ist Inger Johanne Vik. Ich arbeite an der Universität Oslo, und ich suche eigentlich nach Leuten, die vielleicht wissen könnten, was aus einer Frau geworden ist, die früher hier gewohnt hat. Vor ziemlich langer Zeit, um ehrlich zu sein.«
»Ach?«
Die Frau war sicher schon weit über sechzig. Sie hatte ihre Haare unter einem Chiffontuch versteckt. Unter dem blaugrünen, halb durchsichtigen Stoff konnte Inger Johanne dicke Lockenwickler sehen, die ebenfalls grün und blau waren.
»Ich bin 1967 hergezogen«, sagte die Frau, ohne Inger Johanne ins Haus lassen zu wollen. »Also kann ich vielleicht behilflich sein? Wen suchen Sie denn eigentlich?«
»Agnes Mohaug«, sagte Inger Johanne.
»Die ist tot«, sagte die Frau und lächelte breit, als sei das eine wirklich erfreuliche Nachricht. »Sie ist in dem Jahr gestorben, als ich hier eingezogen bin. Gleich darauf, genauer gesagt. Sie hat dort gewohnt.«
Die Frau hob träge die Hand. Inger Johanne nahm an, daß sie auf die linke Seite des Erdgeschosses zeigte.
»Haben Sie sie gekannt?«
Die Frau lachte. Ihre Zahnhälse leuchteten grau aus kränklich rosafarbenem Zahnfleisch.
»Agnes Mohaug hat wohl kaum jemand gekannt. Sie wohnte hier, seit das Haus gebaut worden war. Seit 1951, glaube ich. Trotzdem hat niemand sie … Sie hatte einen Sohn. Wissen Sie das?«
»Ja, ich suche …«
»Einen … einen Trottel, wenn Sie verstehen, was ich meine. Nicht, daß ich ihn gekannt hätte, auch er ist gestorben …«
Wieder lachte sie, heiser und herzlich, als halte sie die Auslöschung der kleinen Familie Mohaug für einen Heidenspaß.
»Er soll kein guter Mensch gewesen sein. Das nun wirklich nicht. Aber Agnes Mohaug selbst … an der hatte wohl niemand etwas auszusetzen. Sie blieb für sich. Immer. Schlimme Geschichte, das mit dem Jungen, der …«
Die Frau unterbrach sich.
»Mit dem Jungen, der was?« fragte Inger Johanne vorsichtig.
»Ach …«
Die andere zögerte mit der Antwort. Dann fuhr sie sich rasch mit der Hand über die Lockenwickler.
»Das ist so lange her. Und ich habe Frau Mohaug nun einmal nicht sehr gut gekannt. Sie ist ja schon wenige Monate nach meinem Einzug hier gestorben. Ihr Sohn war damals seit mehreren Jahren tot. Jedenfalls schon lange.«
»Ja, genau …«
»Aber …«
Das Gesicht der Frau erhellte sich. Wieder lächelte sie so energisch, daß ihr schmales Gesicht sich dabei zu teilen schien.
»Versuchen Sie es bei Hansvold in Nummer 44. Da hinten!«
Sie zeigte auf das grüne Doppelhaus, das hundert Meter weiter stand, von Nummer 46 getrennt durch einen breiten Rasen und einen hüfthohen Metallzaun.
»Hansvold wohnt länger hier als alle anderen. Er ist sicher schon über achtzig Jahre alt, aber im Kopf ist er immer noch kristallklar. Wenn Sie einen Moment Zeit haben, dann bringe ich Sie gern zu ihm …«
Sie beugte sich vertraulich vor, ohne die Tür jedoch weiter zu öffnen.
»… um Sie mit ihm bekannt zu machen, meine ich. Einen Moment nur.«
»Das ist doch gar nicht nötig«, sagte Inger Johanne rasch. »Das schaffe ich schon selber. Aber vielen Dank. Tausend Dank!«
Ehe die Frau mit dem Chiffontuch sich umziehen konnte, lief Inger Johanne auch schon zum Tor. Im Kindergarten schrie ein Kind los. Der Zimmermann auf dem Gerüst auf der anderen Straßenseite fluchte wütend und drohte einem Mann in einem Anzug mit Klage, während der Mann resigniert mit den Händen in der Luft herumfuchtelte und auf einen umgestürzten Zementmixer zeigte. Ein Wagen bretterte über einen Straßenbuckel, als Inger Johanne durch das Tor ging; sie zuckte zusammen und trat in eine Pfütze.
Die Kleinstadt hatte bereits ein kleines bißchen von ihrem Charme eingebüßt.
»Aber ich begreife noch immer nicht so ganz, warum Sie das wissen wollen.«
Harald Hansvold klopfte den Pfeifenkopf in einem großen Kristallaschenbecher aus. Feine Flocken aus verbranntem Tabak rieselten über die blanke Oberfläche. Der alte, gut angezogene Mann hatte offenbar Probleme mit den Augen. Ein mattgrauer Schleier ließ die Konturen der einen Pupille verschwimmen, er hatte es offenbar aufgegeben, eine Brille zu tragen. Inger Johanne hatte den Verdacht, daß er nur noch Schatten sah. Er hatte sie, eine Wildfremde, aus der Küche Traubenlimonade und Kekse holen lassen. Ansonsten schien er gesund zu sein; die Hand, mit der er die Pfeife ein weiteres Mal
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