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In kalter Absicht

In kalter Absicht

Titel: In kalter Absicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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stopfte, war ruhig. Auch seine Stimme klang ruhig, und er konnte sich sofort an Agnes Mohaug erinnern, die Nachbarin mit dem begrenzt begabten Sohn, wie er sich auszudrücken beliebte.
    »Er war leicht zu lenken. Ich glaube, das war das eigentliche Problem. Es fiel ihm natürlich nicht gerade leicht, Freunde zu finden. Echte Freunde, meine ich. Vergessen Sie nicht, daß wir von einer ganz anderen Zeit reden, einer Zeit, in der … die Toleranz für Menschen, die anders sind …«
    Er lächelte verkniffen. »… sich durchaus nicht mit der von heute vergleichen ließ.«
    Inger Johanne wußte nicht, ob der Mann ironisch sein wollte. Sie spürte einen Stich in der Brust und trank einen großen Schluck Limonade. Die war viel zu süß, und vor Schreck ließ sie fast alles aus ihrem Mund zurück ins Glas fließen.
    »Anders war wirklich kein böser Junge«, sagte Hansvold, der das alles nicht bemerkt hatte. »Meine Frau hat ihn ab und zu hergeholt. Manchmal hat mir das Sorgen gemacht, ich war beruflich doch viel unterwegs. Ich war früher Lokführer, müssen Sie wissen.«
    Harald Hansvold drückte sich für sein Alter erstaunlich gewählt aus. Der alte Herr hatte etwas unerwartet Vornehmes an sich, ebenso wie seine Wohnung mit den Bücherregalen bis zur Decke und den drei modernen Lithografien an den Wänden. Das alles schien nicht so recht zu einem langen Eisenbahnerleben zu passen. Aus Angst, ihre Vorurteile könnten zu deutlich durchscheinen, nickte sie voller Interesse, als sei Lokomotivführer ein Beruf, über den sie immer schon gern mehr gewußt hätte.
    »Als er noch klein war, machte das natürlich nicht so viel. Aber als er dann in die Pubertät kam … Er wurde ein stattlicher Mann. Groß und kräftig. Aber, wissen Sie …«
    Er tippte sich vielsagend mit dem Zeigefinger an die Schläfe.
    »Und dann war da noch dieser Asbjørn Revheim.«
    »Asbjørn Revheim?«
    »Ja, den kennen Sie doch?«
    Inger Johanne nickte verwirrt.
    »Natürlich«, murmelte sie.
    »Er ist hier um die Ecke aufgewachsen. Haben Sie das nicht gewußt? Sie sollten die Biographie lesen, die im vergangenen Herbst erschienen ist. Seltsamer Mann. Hochinteressantes Buch. Verstehen Sie, Asbjørn war schon als kleiner Junge ein Rebell. Zog sich auffällig an. Benahm sich absolut sonderbar. Er war wirklich nicht wie alle anderen.«
    »Nein«, sagte Inger Johanne unsicher. »Das war er wohl nie.«
    Harald Hansvold schmunzelte und schüttelte den Kopf.
    »An einem Sonntag, das muß 1957 oder 58 gewesen sein … es war 57! Gleich nach dem Tod von König Haakon, nur einige Tage später, es herrschte landesweite Trauer und …«
    Er nuckelte an seiner Pfeife, die nicht richtig brennen wollte.
    »Damals hat der Junge vor dem Kindergarten eine Hinrichtung inszeniert. Nur war das damals noch kein Kindergarten. Früher stand dort das Pfadfinderhaus. Damals.«
    »Eine … Hinrichtung? Eine Exekution?«
    »Ja. Er hatte eine streunende Katze eingefangen und sie königlich gekleidet. Mit Hermelin und Krone. Der Umhang bestand aus einem alten Kaninchenfell mit aufgemalten Tupfen. Die Krone hatte er auch selber gebastelt. Das arme Katzenvieh jammerte und strampelte wild, aber es mußte doch an einem selbstgebauten Galgen sein Leben lassen.«
    »Das war doch … ich muß schon … das war Tierquälerei!«
    »Ja, sicher.«
    Er konnte sein Lächeln aber trotzdem nicht unterdrücken.
    »Das hat Aufsehen erregt, das kann ich Ihnen sagen. Die Polizei rückte an, und die Damen hier in der Straße machten einen Höllenlärm. Asbjørn hat das natürlich weidlich ausgenutzt und das Ganze als politische Demonstration gegen die Königsfamilie bezeichnet. Er wollte die tote Katze verbrennen und hatte sogar schon ein Feuer gemacht, als die Ordnungshüter eingriffen und der Sache ein Ende machten. Sie können sich das doch vorstellen, gerade erst war ein so beliebter Monarch wie König Haakon gestorben …«
    Plötzlich verschwand sein Lächeln. Sein graues Auge wurde matter, als schaue der Mann in sich hinein, rückwärts durch die Zeit.
    »Das schlimmste war wohl«, sagte er dann leise und mit einer ganz anderen Stimme. »Das schlimmste war sicher, daß er Anders als Henker verkleidet hatte. Mit bloßem Oberkörper und schwarzer Kapuze. Agnes Mohaug ist das ungeheuer nahegegangen. Aber so war es eben.«
    Es war so still in der Wohnung. Keine Uhr, kein Radio. Harald Hansvolds Wohnung war nicht die eines alten Mannes. Die Möbel waren neutral, die Vorhänge weiß, und auf den

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