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In kalter Absicht

In kalter Absicht

Titel: In kalter Absicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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und wir müssen wissen, ob sie irgendwo draußen einen unbekannten Vater haben.«
    »Einen unbekannten Vater?«
    Sigmund Berli klang jetzt eher kleinlaut. Seine Fäuste öffneten sich, und er atmete freier.
    »Meinst du, diese Kinder könnten … Halbgeschwister sein?«
    »Ich meine gar nichts«, sagte Yngvar Stubø. »Du mußt dir irgendeinen Grund für diese Tests aus den Fingern saugen. Viel Glück!«
    Sigmund Berli murmelte irgendeine Bemerkung. Yngvar Stubø war vernünftig genug, nicht um Wiederholung zu bitten. Sigmund sagte bisweilen Dinge, die er nicht so meinte. Oder die er schon bald, nachdem er sie gesagt hatte, nicht mehr meinte. Außerdem wußte Yngvar nur zu gut, woran der Kollege gerade dachte. Sigmund Berlis ältester Sohn war ein blonder, zierlicher Junge. Seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten, sagte Sigmund selbst oft mit kaum verhohlenem Stolz.
    Als die Tür sich hinter Sigmund geschlossen hatte, wählte Yngvar Stubø Inger Johannes Dienstnummer. Niemand meldete sich. Er ließ es lange klingeln. Das half auch nichts. Dann versuchte er es bei ihr zu Hause. Auch dort war sie nicht, und er ertappte sich dabei, daß er sich ärgerte, weil er nicht wußte, wo sie war.

39
    Das Haus war offenbar gleich nach dem Krieg gebaut worden. Oder vielleicht auch in den fünfziger Jahren. Ein Kastenhaus mit vier Wohnungen, allem Anschein nach mit Bad und Küche. Das Grundstück war relativ groß; die Kleinstädte im Norwegen der Nachkriegszeit waren nicht von Wohnungsmangel geprägt gewesen. Das Haus war erst vor kurzem renoviert worden. Die Farbe klebte fett und gelb auf den Mauern und die Dachziegel sahen neu aus. Inger Johanne hielt auf der Straße, gleich vor dem Tor. Auch der Zaun war frisch gestrichen, die grüne Farbe glänzte so strahlend, daß sie sich für einen Moment fragte, ob sie wohl noch feucht war.
    Es roch nach Kleinstadt.
    Hin und wieder das Geräusch eines Autos, das Gemurmel aus einem Kindergarten hinter einem hohen Zaun, das Hämmern von einer Baustelle auf der anderen Straßenseite, die derben Zurufe der Zimmerleute, das plötzliche Lachen einer Frau hinter einem offenen Fenster. Die Geräusche einer Kleinstadt. Der Duft von frisch gebackenem Brot. Das Gefühl, beobachtet zu werden, als sie sich dem kleinen Vorbau über der Haustür näherte, ohne zu wissen, wer sie anstarrte, was diese Person sah oder ob sie überhaupt mehr dachte als nur, hier kommt eine Fremde, eine, die nicht hergehört.
    Inger Johanne Vik war in Oslo geboren und aufgewachsen. Sie hatte keine Ahnung von Kleinstädten und sah das auch ein. Trotzdem hatten solche Orte für sie etwas Anziehendes. Die Übersichtlichkeit. Die Durchsichtigkeit. Das Gefühl, ein Teil von etwas zu sein, das nicht riesig und undurchschaubar war. Inzwischen kam dieser Gedanke ihr immer häufiger: Die moderne Computertechnologie zwang sie nicht mehr dazu, in Oslo zu wohnen. Sie könnte wegziehen, aufs Land ziehen, in einen Ort mit fünf Läden und einer Autowerkstatt, einem verräucherten Café und einer Bushaltestelle, mit billigen Wohnungen und einer Schule mit nur fünfzehn Kindern pro Klasse für Kristiane. Natürlich könnte sie das nicht, da Isak und ihre Eltern ja in der Stadt wohnten, da Kristiane Menschen um sich herum brauchte, immer und in nächster Nähe. Trotzdem ließ dieser Gedanke sich nicht verdrängen. Sie spürte die Blicke aus dem ersten Stock des gelben Hauses, aus dem Panoramafenster in der Villa auf der anderen Straßenseite, die Augen, die hinter Jalousien und Gardinen alles verfolgten; sie wurde gesehen und beobachtet und fand darin eine seltsame Geborgenheit.
    Lillestrøm. Herrgott! Jetzt mache ich mir schon romantische Vorstellungen von Lillestrøm!
    Für neue Klingeln hatten die Renovierungsrücklagen der Wohnungsgenossenschaft offenbar nicht mehr gereicht. Die alten hingen lose aus der Wand, befleckt von der gelben Farbe. Inger Johanne versuchte auf eine zu drücken. Sie mußte die Klingel mit der einen Hand festhalten und mit der anderen kräftig pressen. In der Ferne konnte sie ein schrilles Geräusch hören. Niemand reagierte, und sie versuchte es mit der nächsten Klingel. Die Frau im ersten Stock, die sie durch das Küchenfenster beobachtet hatte, ohne sich klarzumachen, daß sie von der Einfahrt her selbst sehr gut zu sehen war, steckte den Kopf durch das Fenster.
    »Hallo?«
    »Hallo. Ich bin Inger Johanne Vik, ich würde gern …«
    »Einen Moment bitte!«
    Die Frau kam die Treppe heruntergestapft. Sie

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