In kalter Absicht
Sigmund Berli, seine Stimme klang jetzt ein wenig lebhafter. »Was diese Beobachtung nur noch interessanter macht. Der Zeuge hatte übrigens recht, bei der Frau in dem roten Mantel handelt es sich um eine Nachbarin. Sie selbst glaubt, gegen zehn vor drei von Langnesbakken hergekommen zu sein. Der Junge auf dem Fahrrad ist ebenfalls identifiziert worden, er hat sich heute morgen zusammen mit seinem Vater gemeldet und hat offenbar nichts zu verbergen. Keiner von den beiden hatte etwas Verdächtiges gehört oder gesehen. Der Mann, der es so eilig hatte, ohne es zeigen zu wollen, hat sich nicht gemeldet. Er könnte also …«
»Unser Mann sein.«
Yngvar Stubø erhob sich.
»Er war zwischen fünfundzwanzig und fünfunddreißig. Hatte Haare. Und sonst?«
Er stand jetzt vor den Bildern der Kinder. Seine Blicke wanderten über die Fotoreihe, hin und her.
»Nicht sehr viel, fürchte ich. Dieser Zeuge, mir fällt im Moment sein Name nicht ein, nimmt sich offenbar ungeheuer in acht, nur nicht zuviel zu sagen. Er beschreibt Gang und Gestalt, weigert sich aber, bei der Erstellung einer Phantomzeichnung zu helfen.«
»Eigentlich vernünftig, wenn er glaubt, nicht genug gesehen zu haben. Warum tippt er auf dieses Alter?«
»Wegen der Gestalt. Der Haare. Der Art zu gehen. Fest und federnd, aber nicht jugendlich. Wegen der Kleider. Wegen allem. Aber zwischen fünfundzwanzig und fünfunddreißig ist nicht gerade präzise.«
Yngvar Stubø wippte auf den Absätzen.
»Aber wenn …«
Er fuhr herum und sah seinen Kollegen an.
»Wenn sich nicht bald jemand meldet, auf den diese Beschreibung paßt, und der an diesem Sonntag nachmittag dort nachweislich etwas zu suchen hatte, dann sind wir auf jeden Fall einen Schritt weiter.«
»Einen Schritt«, wiederholte Berli und nickte. »Aber nicht sehr viel mehr. Wir sind doch die ganze Zeit davon ausgegangen, daß wir es mit einem Mann zu tun haben. Strenggenommen kann er auch zwischen zwanzig und vierzig sein. Und in Norwegen gibt es ziemlich viele Männer in dieser Altersgruppe. Selbst wenn wir nur die mit Kopfhaaren rechnen. Außerdem kann er durchaus eine Perücke getragen haben.«
Das Telefon klingelte. Für einen Moment sah es so aus, als wollte Yngvar Stubø nicht abnehmen. Er starrte den Apparat an, dann riß er plötzlich den Hörer von der Gabel.
»Stubø«, sagte er kurz.
Sigmund Berli ließ sich im Sessel zurücksinken. Yngvar sagte wenig, hörte meist zu. Sein Gesicht war ziemlich ausdruckslos, nur das leichte Heben der linken Augenbraue deutete auf ein gewisses Erstaunen über das Gehörte hin. Sigmund Berli ließ die Finger über ein Zigarrenetui wandern, das vor ihm auf dem Tisch lag. Das Holz war glatt poliert und fühlte sich angenehm an. Er verspürte plötzlich ein hohles und unangenehmes Gefühl von Hunger; sein Magen brannte, obwohl er eigentlich keinen Appetit hatte. Yngvar beendete sein Gespräch.
»Etwas Neues?«
Yngvar gab keine Antwort. Er ließ den Stuhl halbwegs um seine eigene Achse wirbeln, um abermals die Kindergesichter an der Wand betrachten zu können.
»Kims Eltern wohnen zusammen. Sind verheiratet. Die von Glenn Hugo ebenfalls. Sarahs Mutter ist alleinstehend, aber die Kleine hat jedes zweite Wochenende bei ihrem Vater verbracht. Emilies Mutter ist tot. Emilie wohnte bei ihrem Vater.«
»Wohnt«, korrigierte Berli. »Emilie kann durchaus noch am Leben sein. Diese Kinder repräsentieren mit anderen Worten einen normalen Querschnitt durch Norwegens kindliche Bevölkerung. Die Hälfte hat Eltern, die zusammenleben, die andere Hälfte lebt bei einem Elternteil.«
»Nur daß Emilies Vater eigentlich nicht ihr richtiger Vater ist.«
»Wie bitte?«
Die Klimaanlage stellte unvermittelt ihre Arbeit ein.
»Das eben war Hermansen von Asker und Bærum«, sagte Yngvar und zeigte aufs Telefon. »Bei ihnen hat sich ein Arzt gemeldet. Er wußte nicht, wie bedeutend – oder ob überhaupt – das, was er zu erzählen hatte, für die Ermittlungen wäre. Nach allem, was am Wochenende passiert ist, hat er sich jedoch im Einvernehmen mit seinen Vorgesetzten entschieden, die Schweigepflicht zu brechen und uns mitzuteilen, daß Emilies Vater nicht ihr biologischer Vater ist.«
»Und Tønnes Selbu hat uns das verschwiegen?«
»Er weiß es nicht.«
»Er weiß nicht, daß … Weiß er nicht, daß er nicht der Vater seines Kindes ist?«
Beide starrten Emilies Foto an. Es war größer als die anderen, es war von einem professionellen Fotografen aufgenommen
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