In letzter Sekunde - Child, L: In letzter Sekunde - Echo Burning/ Reacher 05
starrten das Geld an. Sie waren zu keiner Reaktion fähig, stellten auch keine Fragen. Akzeptierten nur, dass ihr Schicksal sich endlich zum Besseren gewendet hatte.
Dann plötzlich begannen sie sich darüber zu unterhalten, was sie alles tun würden. Als Erstes sollte das Telefon wieder angeschlossen werden. Dann der Strom. Dann würden sie zurückzahlen, was sie sich von Freunden geliehen hatten. Anschließend würden sie Diesel kaufen, damit die Bewässerungspumpe wieder lief, und ihren Lastwagen reparieren lassen und in die Stadt fahren, um Saatgut und Kunstdünger zu kaufen. Als ihnen dämmerte, dass sie bis zum Winter noch eine ganze Ernte aussähen, einbringen und verkaufen konnten, fehlten ihnen die Worte.
Reacher blieb im Hintergrund und sah sich in dem Raum um. Von der Wohnküche aus führte eine offen stehende Tür in das Wohnzimmer auf der Vorderseite des Hauses. Am auffälligsten in dem stickigen Wohnzimmer waren eine Enzyklopädie mit zehn oder zwölf Bänden, eine Gruppe von Heiligenfiguren auf einem niedrigen Regal und ein einzelnes Bild an der Wand. Es zeigte einen ungefähr vierzehnjährigen Jungen, auf dessen Oberlippe sich bereits der Anflug eines dunklen Barts abzeichnete. Er trug einen weißen Firmanzug und lächelte schüchtern. Das Foto in dem schwarzen Holzrahmen war mit einem staubigen Trauerflor geschmückt.
»Mein Ältester«, sagte eine Stimme. »Die Aufnahme wurde gemacht, kurz bevor wir unser Dorf in Mexiko verlassen haben.«
Reacher drehte sich um und sah die Mutter des Jungen hinter sich stehen.
»Er ist nach unserem Grenzübertritt erschossen worden«, erklärte sie.
Reacher nickte. »Ja, das habe ich gehört. Von der Border Patrol. Das tut mir aufrichtig Leid.«
»Das war vor zwölf Jahren. Sein Name war Raoul García.«
»Wie ist das passiert?«, fragte Reacher.
Die Frau schwieg einen Augenlick. »Es war entsetzlich«, sagte sie dann. »Sie haben uns nachts drei Stunden lang gejagt.
Wir waren zu Fuß unterwegs, sie hatten einen Pick-up mit hellen Scheinwerfern. Wir wurden getrennt, haben uns in der Dunkelheit aus den Augen verloren. Raoul war mit seiner Schwester zusammen. Er hat sie beschützt. Sie war damals erst zwölf. Er schickte sie in eine Richtung und ist selbst in die andere gelaufen – direkt auf die Scheinwerfer zu. Raoul wusste, dass es schlimmer war, wenn sie Mädchen erwischten. Er hat sich geopfert, um seine Schwester zu retten. Aber sie haben nicht einmal versucht, ihn festzunehmen oder irgendwelche Fragen zu stellen. Sie haben ihn einfach niedergeschossen und sind davongefahren. Sie sind an unserem Versteck vorbeigekommen, haben laut gelacht. Als sei die Menschenjagd für sie ein Sport.«
»Das tut mir aufrichtig Leid«, wiederholte Reacher.
Die Frau zuckte mit den Schultern. »Das ist damals sehr häufig passiert. Es war eine schlechte Zeit und dies ein schlimmes Gebiet. Das haben wir später erfahren. Unser Schleuser wusste nichts davon – oder es war ihm egal. Wir haben herausgefunden, dass auf dieser Route in einem einzigen Jahr über zwanzig Menschen umgebracht worden waren. Zum Spaß. Manche auf schreckliche Weise. Raoul hatte noch Glück, dass er einfach nur erschossen wurde. Die Schreie mancher Opfer konnte man nachts meilenweit über die Wüste hören. Einige Mädchen wurden verschleppt und sind nie wieder aufgetaucht.«
Reacher schwieg. Die Frau betrachtete das Foto noch eine Weile. Dann wandte sie sich sichtlich bewegt ab, zwang sich zu einem Lächeln und forderte Reacher mit einer Handbewegung auf, sich wieder zu ihrer Familie in der Küche zu gesellen.
»Wir haben Tequila«, sagte sie leise. »Eigens für diesen Tag aufgehoben.«
Auf dem Küchentisch standen Schnapsgläser, in welche die Tochter jetzt Tequila verteilte. Das von Raoul gerettete Mädchen,
das inzwischen zu einer jungen Frau herangewachsen war. Der jüngere Sohn gab jedem ein Glas. Der Vater wartete, bis Ruhe eingetreten war, und hob dann sein Glas zu einem Trinkspruch auf Alice.
»Auf unsere Anwältin«, sagte er. »Für ihre Widerlegung des großen Franzosen Honoré de Balzac, der einmal geschrieben hat: ›Gesetze sind Spinnweben, die die großen Fliegen durchlassen und in denen die kleinen sich verfangen.‹«
Alice errötete leicht. García lächelte ihr zu, bevor er sich an Reacher wandte. »Und auf Sie, Sir, für Ihre großzügige Hilfeleistung in Notzeiten.«
»De nada«, erwiderte Reacher. »No hay de qué.«
Der Tequila war kratzig, und die
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