In Liebe, Rachel
überlassen, weil wir mit Tante Leahs Arztterminen und Abes Gebrechen schon völlig überfordert waren. Und dann kamst du, um uns eine Last abzunehmen.«
Gehirnlähmung. So nannte man das wohl, dachte Jo, diese seltsame Unfähigkeit zu verarbeiten, was einem gerade gesagt wurde. Deshalb wurde Hector, trotz all seiner Talente, kein Projektmanager. Er behauptete, vor diesen ganzen Anzugträgern wie paralysiert zu sein und keinen Ton herauszubringen. Bis jetzt hatte Jo nicht so recht verstanden, wovon er sprach. Jessie plapperte weiter, und auch wenn Jo ihre Worte hörte, verstand sie ihren Sinn nur zum Teil. Ihre Gedanken kreisten um Latoya, die am nächsten Tag kommen würde, und darum, dass sie auf keinen Fall vergessen durfte, mit Grace die Subtraktion mit zweistelligen Zahlen zu üben. Ihre neuen Klassenkameraden in der zweiten Klasse waren ihr da voraus.
»Ich weiß, dass du mit dieser Verantwortung nicht gerechnet hast, Jo. Du dachtest, es handele sich um eine Verwechslung.« Jessie hängte das Geschirrtuch über den Kühlschrankgriff und zog die Enden auf gleiche Höhe. »Ich habe es dir an dem Tag angesehen. Rachel hatte dich ja nicht vorgewarnt. Der Brief traf dich vollkommen unvorbereitet.«
»Darin hat sie mir das Sorgerecht übertragen«, sagte Jo mit seltsam taubem Mund. »Sie hat mich zu Grace’ gesetzlichem Vormund gemacht und das Ganze mit Tinte besiegelt.«
»Rachel hat einige verrückte Entscheidungen getroffen.« Jessie fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, das sich unterdessen vollends aus dem Pferdeschwanz gelöst hatte. »Ich kann immer noch kaum glauben, was sie mir geschrieben hat. Aber ihre Entscheidung für Grace übertrifft alles andere.«
»Jessie, ich bin jetzt seit drei Tagen hier, und ich kann bestätigen, dass Rachel eine kluge Entscheidung getroffen hat«, unterbrach Sarah sie. »Jo ist mit Grace einfach wunderbar.«
Im Stillen umarmte Jo ihre Freundin.
»Ich will deine Mühen nicht herabsetzen.« Jessie ging an der Arbeitsplatte entlang und drehte sich an der Grenze zwischen Fliesen und Teppich auf den Zehenspitzen um. »Du hast Unglaubliches geleistet, das sieht man. Du bist mit Grace zur Therapeutin gegangen, hast ihr vieles ermöglicht, sogar eine jüdische Schule für sie ausgesucht. All das bedeutet meiner Tante sehr, sehr viel.« Jessie hielt inne und blickte Jo über die Arbeitsplatte hinweg an. »Es ist nur so, dass wir – meine Tante und ich – glauben, dass wir dich jetzt von dieser Verantwortung befreien sollten, einer Verantwortung, die wahrscheinlich nie hätte auf deinen Schultern lasten sollen. Vielleicht war Rachel … etwas verwirrt, als sie den Brief an dich geschrieben hat. So muss es gewesen sein. Immerhin hat Gracie ja eine Familie. Wir dachten, heute sei ein guter Tag, um … nun ja, es ist noch nicht so viel Zeit verstrichen, seit wir sie dir überlassen haben. Die Zeit mit dir wird ihr eher wie ein kleiner Urlaub vorkommen. Mal ein bisschen raus von zu Hause. Selbst der Anwalt hält den Zeitpunkt für günstig …«
»Der Anwalt?«
Jessie wurde kreidebleich. Sie schlang die Arme fest um ihren Brustkorb und wandte den Blick ab. »Ich … ich hätte das nicht sagen dürfen«, murmelte sie mit gesenktem Kopf. »Es war nur ein Beratungsgespräch. Um über … Möglichkeiten zu sprechen.«
Möglichkeiten.
»Er sagt … wir sollen auf dich zugehen, mit dir zusammenarbeiten. Das tun, was das Beste für Grace ist. Ein Testament anzufechten dauert …«
Ein Testament anfechten.
Jo drehte Jessie den Rücken zu, den
Möglichkeiten,
den
Anwälten
, hielt sich an der Kante der anderen Arbeitsplatte fest. Ihre Finger veränderten vor ihren Augen die Farbe, das Blut wich aus den Spitzen, so sehr hielt sie sich fest, um nicht zu Boden zu sinken. Schwarze Flecken trübten ihr Blickfeld, doch sie durfte jetzt nicht ohnmächtig werden – sie durfte jetzt nicht ohnmächtig werden! –, nicht einmal auf die anmutige Art einer Südstaatlerin. Sie musste sich zusammenreißen und versuchen zu begreifen, was hier los war.
Atmen!
Dies war die erste einfache Wahrheit: Ohne Grace würde ihr Leben um ein Vielfaches einfacher sein. Ohne Grace könnte sie sich wieder mit voller Kraft auf die Arbeit konzentrieren. Sie würde ein Projekt für die indische Sängerin finden, die sie wegen des
Mystery
-Auftrages kontaktiert hatte. Sie könnte die Kindergitter entfernen, die die Wohnung zu einem Zwinger machten, könnte das Gästezimmer wieder für die Sachen nutzen,
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