In Liebe, Rachel
wahrscheinlich ganz viel angestellt, ihr Reißnägel auf den Stuhl gelegt und die Schlösser mit Uhu verklebt und ihr Streiche mit der Zahnpasta gespielt, oder? Nein? Hast du nicht? Na, dann kannst du nicht meine kleine Gracie sein. Waren die Wichtel da und haben meine Kleine mitgenommen und dich stattdessen dagelassen …?«
Grace schüttelte lachend den Kopf und vergrub ihre kleinen Fäuste in Jessies Haar. Jo nahm ihren Paschminaschal ab und hob Grace’ Mantel vom Boden auf. Sie ergriff die Jacken, die Sarah über die Couchlehne gelegt hatte, und versuchte verzweifelt, den Schmerz in ihrem Herzen, das Ziehen der Einsamkeit, beiseitezuschieben.
Als Jo Mantel und Jacken aufgehängt hatte, ging sie in die Küche, um so viel Abstand wie möglich zwischen sich und diese traute Szenerie zu bringen. »Hat jemand besondere Teewünsche?«
»Haben Sie Lipton?«, fragte Mrs Braun. »Lipton wäre schön. Ich hasse dieses Früchtezeug.«
»Lipton, kein Problem.«
Sarah rief dazwischen: »Hast du auch Kaffee?«
»Sarah, du und Kaffee?« Jessie setzte sich auf die Couch. »Ich hätte dich eher als Grünteetrinkerin eingeschätzt.«
»Ich verabscheue grünen Tee.« Sarah fasste ihre wilden Locken im Nacken zusammen und türmte sie auf dem Kopf auf. »Schwarzen Kaffee für mich, bitte, je stärker, desto besser. Im Camp werden wir verwöhnt. Wir bekommen Burundi-Bohnen von den Plantagen in den Bergen, das Kilo zu ein paar Francs.«
Während sich Jessie und Sarah über fair gehandelten Kaffee unterhielten, holte Jo die Packung mit den garantiert nicht fair gehandelten Kaffeebohnen aus dem Schrank und schüttete etwas davon in die Kaffeemühle aus rostfreiem Stahl, doch auch diese Beschäftigung konnte Mrs Brauns Geplapper nicht übertönen.
»Lass dich mal anschauen, Gracie. Los, komm mal her! Oh, schau, wie groß du geworden bist, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe. Jo, was geben Sie ihr denn zu essen? Sie ist ja wie eine Rakete in die Höhe geschossen. Isst du jeden Abend Steak und auch brav das Gemüse, oder klaust du Sandwiches, wenn Tante Jo nicht hinschaut?«
»Heute habe ich Pepitos Crudités gegessen.«
»Wirklich? Nun, das hat bestimmt geholfen. Oder bindet Tante Jo dich auf deinem Bett fest und streckt deine Arme und Beine über Nacht? Hm, macht sie das?«
»Nein, Nana, jetzt bist du aber dumm!«
»Oh, du bist schon ein großes Mädchen, kein Baby mehr, das ist sicher. Jetzt hast du hübsche Kleider an und gehst wie Eloise zu Nachmittagstees. Nicht Eloise, sondern Madeline? Nun, dann wie Madeline …«
Jo hielt den Stahlkessel unter den Kohler-Wasserhahn und drehte das Wasser voll auf, um möglichst viel Lärm zu machen. Der brennende Schmerz in ihrem Herzen kühlte sich zu einem Schamgefühl ab. Schließlich handelte es sich hier um Grace’ Familie. Natürlich freute sie sich, sie wiederzusehen. Natürlich war sie aufgeregt und lachte und verhielt sich ungezwungen wie ein kleines Mädchen. Das war doch hundertmal besser als das, was Jo vor dem Besuch befürchtet hatte: ein Profiwutanfall, komplett mit rotem, verzerrtem Gesicht, hysterischem Kreischen und einer Ladung Makkaroni mit Käse, die durch die Küche flog. Oder?
Sie stellte den Teekessel auf die Herdplatte, und im selben Moment begann der Kaffee durchzulaufen. Sie zwang sich dazu, einen Blick ins Wohnzimmer zu werfen, und sah, wie Mrs Braun einen etwas lädierten Kaiserpinguin aus Plüsch aus einer Tasche zog und Grace’ Augen groß wurden. Das Mädchen drückte das Plüschtier liebevoll an sich.
Besorgt beobachtete Jo die Szene.
»Das ist eins von Grace’ Lieblingsstofftieren«, erklärte Jessie, die sich zu Jo in die Küche gesellte. »Rachel hat es ihr vor Jahren gekauft, nach ihrer ersten Reise nach Patagonien. Meine Tante hat sich die ganzen letzten Wochen gesorgt, dass Gracie es vermisst und sich jede Nacht in den Schlaf weint.«
»Grace hat es nie erwähnt, nicht ein einziges Mal.«
»Das ist aber seltsam.« Jessie schob ihre schmalen Hände in die Taschen ihrer hautengen Jeans. »Daheim konnte sie ohne den Pinguin nicht einschlafen. Sie hat schon geschrien, wenn er nur aus dem Bett gefallen war.«
Jo wandte ihr den Rücken zu und öffnete einen Schrank. »Möchtest du auch einen Lipton-Schwarztee?«
»Was du gerade dahast.« Jessie stellte einen Stiefelabsatz auf den unteren Ring des Barhockers und blickte ins Wohnzimmer hinüber. »Jo, sie sieht wirklich glücklich aus.«
»Nun, ich habe ihr etwas Prozac gegeben, bevor
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