In Liebe, Rachel
Was haltet ihr von einem mexikanischen Kaffee? Hm?«
»Nicht für mich«, antwortete Sarah. »Ein Glas davon, und ich schnarche auf der Couch wie ein Weltmeister.«
»Ich hätte sehr gern einen«, sagte Jessie mit einem schwachen Lächeln, »aber ich fahre.«
»Süße, eine kleine Tasse während eines zweistündigen Besuchs macht dich nicht betrunken.«
»Ja, aber ich will nicht mal leicht beschwipst sein, wenn ich Gracie im Auto habe.«
»Ihr alten Pfadfinderinnen.« Jo hängte einen Teebeutel in eine Tasse und griff nach dem nächsten. Als sie den dritten Teebeutel aus seiner Verpackung nahm, dämmerte es ihr.
… wenn ich Gracie im Auto habe.
»Jessie … wollt ihr Gracie etwa zum Essen ausführen?«
»Oh …« Jessie erstarrte. »Mist!«
»Das wäre keine gute Idee. Grace hat inzwischen einen geregelten Tagesablauf und muss morgen für die Schule ausgeschlafen sein.«
Jessie lehnte sich an die Rückenlehne des Barhockers aus gehämmertem Metall. »Hey, Jo, ich wollte nicht so damit herausplatzen. Wir haben etwas vor, ja, aber …«
»Hör mal, Süße, Gracie ist deine Nichte. Ich bin vielleicht der gesetzliche Vormund, aber glaub mir, ich werde mich hier nicht wie eine geschiedene Mutter verhalten, die mit ihrem Ex über Besuchszeiten streitet. Natürlich dürft ihr etwas mit ihr unternehmen, irgendetwas Schönes mit ihr machen, aber bitte sagt mir rechtzeitig Bescheid. Sarah wird mir da recht geben: Veränderungen in ihrer Routine verkraftet Gracie im Augenblick gar nicht gut.«
»Amen«, fügte Sarah hinzu.
»Diese ganze Situation ergibt doch keinen Sinn.« Jessie stützte die Ellbogen auf die Arbeitsplatte. »Rachel hatte wieder einmal eine ihrer seltsamen Ideen. Und zugegeben: Diese hier war nicht mal die verrückteste.«
»Hey, es ist nur ein Maulwurfshügel, kein Berg!« Das Teewasser auf dem Herd begann zu kochen. »Bringt sie einfach bis halb acht wieder zurück.«
»Es geht nicht darum, dass wir mit Grace zum Abendessen gehen wollen, Jo. Das ist ja das Problem.« Jessie stieß einen theatralischen Teenagerseufzer aus, der ihren ganzen Körper erzittern ließ. »O Gott, das ist echt hart! Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Okay, ich sage es einfach: Jo, wir wollen Grace mit
nach Hause
nehmen.«
Jo starrte auf den Teebeutel in ihrer Hand und wartete darauf, dass Jessie weitersprach. Auf die Papierhülle war das vertraute rote Lipton-Logo gedruckt. Darin befand sich das grüne Etikett an einem Faden, wie sie ihn abends oft bei ihrer Mutter in einer Tasse gesehen hatte, nach einem langen Tag in der Fabrik.
»Was meinst du damit: Ihr wollt sie mit nach Hause nehmen?«, fragte Jo und riss die Verpackung von dem dritten Teebeutel.
Der Wasserkessel begann zu pfeifen, erst leise, dann immer lauter, während Jo wie gelähmt vor den Teetassen stand.
Aus dem oberen Stockwerk war Mrs Brauns Stimme zu vernehmen: »Ist der Tee schon fertig?«
»Gleich, Tante Leah.« Jessie trat neben Jo und schaltete den Herd aus. »Hör zu, Jo!« Jessie packte den Griff des Wasserkessels mit einem Küchenhandtuch und goss mit raschen, ruckartigen Bewegungen Wasser in drei der vier Tassen. »Ich weiß, dass das sehr plötzlich kommt.«
»Kann man so sagen.«
»Wenn man bedenkt, wie ich dir Grace vor ein paar Wochen einfach aufgehalst habe … das tut mir sehr leid. Ich habe ihr einfach ihre Jacke angezogen und euch beide fortgeschickt. Dafür bitte ich um Entschuldigung. Ich war der Situation einfach nicht gewachsen. Es war nicht meine Absicht, alles so oberflächlich zu erledigen, ohne dir wenigstens die notwendigen Unterlagen mitzugeben, ohne dich vorzubereiten … auf Gracie und ihre Ticks.«
»Ticks.«
»Versetz dich mal in unsere Lage, Jo. Es war eine furchtbare Zeit.« Jessie wischte konzentriert einige Wasserspritzer mit dem Küchenhandtuch von der Arbeitsfläche und fuhr hastig fort: »Wir hatten gerade Rachel beerdigt. Mein Onkel war ans Bett gefesselt, meine Tante halb verrückt vor Sorge und Trauer. Und dann noch all die Rechnungen, der Papierkram. Wir mussten uns um Rachels Haus kümmern, ihre Sportausrüstungen durchgehen, ihre Kleidung sortieren. Einen Teil haben wir dem Jewish Community Center gespendet. Für meine Tante war es morgens schwer, überhaupt aus dem Bett zu kommen. Wir sind mit vielem nicht zurechtgekommen und haben manches falsch angepackt. Als du dann an dem Morgen auftauchtest, war es wie ein Traum. Wir brauchten so dringend Hilfe! Gracie war die meiste Zeit sich selbst
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