In Liebe, Rachel
Leben haben. Ein fast perfektes Leben.« Sie fuhr sich mit der Hand durch ihr zerzaustes Haar und spürte, wie ihre Frustration immer größer wurde, weil sie wusste, dass es nicht vernünftig war, sich so zu fühlen, trotz des ganzen Wohlstands. Aber stimmte es etwa nicht, dass materieller Wohlstand eben nicht gleichbedeutend mit Glück war? Stimmte es etwa nicht, dass sie und Paul sich viel näher gewesen waren, sich viel mehr geliebt hatten, als sie noch von
Ramen
-Nudeln lebten und in Jugendherbergen übernachteten?
»Hör zu«, sagte sie, »dass ich heute zum Fallschirmspringen gegangen bin, hatte nichts mit Rachel zu tun. Um sie ging es bei dem Sprung am Dienstag. Heute bin ich wegen uns gesprungen.«
Dafür, wie es früher war, bevor Ehe, Elternschaft und Hypothek sie in die nun festgelegten Rollen drängten. Bevor Pflichten und Verantwortung ihre Tage füllten und die Spontaneität erstickten. Dafür, wie Paul sie früher durch einen Raum voller Menschen hinweg angesehen oder auf Dinnerpartys unter dem Tisch ihre Hand genommen hatte.
»Verdammt noch mal!« Er nestelte wütend am obersten Knopf seines Hemdes. »Kannst du nicht einfach das Massageöl auf dem Nachttisch stehen lassen?«
»Paul, so einfach ist es nicht.«
»Nein?«
»Nein!«
»Hör zu, Kate, hör mir zu!« Er verlangsamte seinen Schritt und atmete tief durch, während seine Finger am Zaun entlangstrichen und ihre Fingerspitzen in den Zwischenräumen berührten. »Ich weiß, dass Rachels Tod dich erschüttert hat.«
»Das kann man wohl sagen.«
»Letzte Woche habe ich die Erdnussbutter im Kühlschrank gefunden. Und gestern hast du Michaels Unterwäsche in meine Kommode geräumt.«
Hast du auch bemerkt, dass ich mir die Nägel bis aufs Fleisch abkaue? Oder mich bis zwei Uhr morgens schlaflos im Bett wälze?
»Aber wir müssen uns doch wie vernünftige Erwachsene verhalten«, fuhr er fort. »Versprich mir, dass du nicht mehr Fallschirm springst.«
»Aber ich finde es großartig.« Sie schlang die Arme um ihren Oberkörper. »Und der Freifall-Kurs besteht aus zwei Abschnitten. Ich habe gerade mit Abschnitt I begonnen.«
»Abschnitt I?«
»Um die USPA -A-Sprunglizenz zu bekommen, muss ich zwei Abschnitte absolvieren. Jeder besteht aus zwanzig Niveaus.«
»Deine
Lizenz?
«
Seine Stimme klang so ungläubig, so verächtlich, dass ihr Rücken vor Wut prickelte. »Weißt du, vor fünfzehn Jahren hättest du mir dafür applaudiert, dass ich so etwas wage.«
»Vor fünfzehn Jahren hatten wir auch nicht drei Kinder und eine Hypothek.«
»Vor fünfzehn Jahren«, wiederholte Kate, als sie endlich an dem etwa zwei Meter breiten Tor ankamen, »wärest du mit mir gesprungen.«
»Vor fünfzehn Jahren glaubten wir, dass wir nichts zu verlieren hätten. Wir waren
Kinder
. Wir glaubten, wir wären
unsterblich
…«
Kate rüttelte an dem Tor und starrte wütend auf die Kette mit dem schweren Schloss daran.
»… aber wir sind keine Kinder mehr, Kate. Und jetzt planst du, regelmäßig dein Leben aufs Spiel zu setzen. Und wofür?« Paul schlang seine Finger durch die Drahtmaschen um ihre, um sie davon abzuhalten, am Zaun zu rütteln. »Wofür, Kate? Für richtig guten Sex?«
Sie riss ihre Hände zurück. »Wie wäre es damit: für eine richtig gute Ehe?«
Paul erstarrte.
Verdammt!
Sie stieß sich vom Zaun ab, weg von ihm, weg vom Nachhall ihrer Worte. So hatte sie das nicht geplant. Sie hatte nach dem Sprung mit ihm schlafen wollen, hatte sich eine wilde, ungestüme Vereinigung vorgestellt, um ihm anschließend das nächste winzige Häppchen Information unterzujubeln, wenn er noch milde gestimmt war. In der postkoitalen Atmosphäre wäre er dafür zumindest einigermaßen empfänglich gewesen.
Nein, nein, nein!
Sie wollte sich jetzt nicht in diesen Vorstellungen verlieren, nicht jetzt. Und selbst unter den besten Umständen wäre es ein Kampf gewesen, ihm zu erklären, was mit ihr seit ihrem ersten Sprung am Dienstag geschehen war.
Rachel hatte in ihrem Brief geschrieben, dass Fallschirmspringen Kates Kopf freimachen, ihre Energien bündeln und sie dem näherbringen würde, was wirklich wichtig war im Leben. Nun, um die Wahrheit zu sagen, Kate wusste nicht,
was
sie im Moment fühlte. Sie wusste nur, dass starke Emotionen sie im Griff hatten, dass sie ihren gesunden Menschenverstand ausschalteten und sie, Kate, ihnen einfach
ausgeliefert war
. Sie musste ihren Instinkten folgen, wohin auch immer diese sie führten. Eine Umkehr war unmöglich.
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