In Liebe, Rachel
bisherigen Erziehungsberechtigten« – jetzt setzte die Ärztin die Brille gerade lang genug auf, um einen Blick in die Akte zu werfen –, »sondern auch von ihren Freunden aus der Nachbarschaft und ihren Haustieren, so sie welche hatte, getrennt hat.«
Haustiere?
»Natürlich weiß sie nicht mehr, wo oben und unten ist. Kann man ihr das verübeln? Doch das Schlimmste ist der Verlust ihrer Mutter, und deshalb versucht sie, neue Grenzen auszutesten, wenn sie mit einem Teller Nudeln nach Ihnen wirft.«
»Eigentlich hat sie ihn durch die …«
»Wie auch immer. Sie müssen das Kind begreifen.«
Klackklackklack. »Kinder sind besondere Wesen und vollkommen anders als Erwachsene. Deshalb gibt es Menschen wie mich«, sagte sie mit einer Handbewegung zu den gerahmten Diplomen an der Wand, »die sich auf die einzigartigen Herausforderungen kindlicher Psychologie spezialisiert haben. Ein Kind trauert nicht so wie Sie und ich. Meine
tía
María zum Beispiel geht zu jeder Beerdigung in Queens, um mal wieder aus vollem Herzen zu weinen. Zugegeben, mit den meisten Verstorbenen ist sie verwandt, aber deshalb geht sie nicht dorthin. Sie geht wegen des Weinens zu den Beerdigungen. Und ich meine tatsächlich
weinen
, mit allem, was dazugehört: heulen, schluchzen, jammern, sich über den Sarg werfen, das ganze Programm. Sie lässt die Trauer heraus, verstehen Sie? Sie verdrängt nichts. Doch ein Kind von sieben Jahren ist zu jung dafür. Es kann noch nicht begreifen, was ›für immer weg‹ bedeutet.«
»Moment, warten Sie mal … Grace versteht nicht, dass ihre Mutter tot ist?«
»Richtig. Ich habe eine Cousine in ihrem Alter, die immer noch glaubt, Goldie käme zurück, obwohl sie gesehen hat, wie der aufgeblähte Fisch die Porzellanrampe hinuntergespült wurde. Natürlich ist es auch nicht hilfreich, dass mein Onkel dauernd Doppelgängerfische kauft und sie ebenfalls Goldie nennt. Bisher hatte sie sieben. Meine Cousine weiß besser als jedes Mitglied der St.-Joseph’s-Pfarrei, was Wiederauferstehung bedeutet.«
Jo lehnte sich auf ihrem Stuhl nach hinten, um einen größeren Abstand zwischen sich und die Fingernageldolche zu bringen. Sie versuchte zu verstehen, was die Therapeutin ihr sagen wollte. Ihr Telefon vibrierte erneut, ein dröhnendes Geräusch in dem kleinen Büro.
»Mit einer Mutter kann man das natürlich nicht machen. Man darf Grace nicht glauben machen, dass ihre Mom zurückkehrt, denn sie wird nicht zurückkehren, und je mehr Zeit vergeht, desto besser wird sie es verstehen. Diese erbarmungslose Erkenntnis wird in plötzlichen Schüben kommen. Gestern haben Sie einen dieser ›Schübe‹ erlebt. Vielleicht war es der erste.«
»Nein, nein«, widersprach Jo. »Es hatte nichts mit ihrer Mutter zu tun. Sie hat wegen der Makkaroni die Fassung verloren.«
»Übertragung. Es ging nicht um die Makkaroni mit Käse. Nein, falsch, es waren schon die Nudeln, aber in dem Sinne eines Triggers.«
»Ein Trigger?«
»Es war ihr Lieblingsessen, nicht wahr?«
»Das hat mir ihre Tante zumindest erzählt.«
»Nun, dann waren es vielleicht nicht die richtigen Makkaroni mit Käse.«
»Die richtigen.« Jo fühlte sich wie ein Zombie, der alles wiederholte.
»Hören Sie!« Klackklackklack. »Kinder sind Gewohnheitstiere. Ich habe einen Patienten, der nur einen ganz bestimmten Käse isst, und den auch nur frisch vom Laib. Wenn man ihm eine andere Marke gibt oder die eingeschweißte Variante, dann verliert er vollkommen die Fassung. Ich spreche vom Wutanfall eines Profis: blaues Gesicht, Krämpfe, Schreien, Sie wissen schon. Welche Makkaroni mit Käse auch immer Sie Grace vorgesetzt haben – es waren die falschen. Sie müssen herausfinden, welche sie mag, und ihr das nächste Mal die richtigen auftischen.«
Jo sank tiefer in ihren Stuhl.
»Sie müssen auch im Kopf behalten, dass das der erste Zwischenfall war, den Sie bemerkt haben. Grace treibt vermutlich sehr viele verrückte Dinge. Dazu gehört auch Schlafwandeln. Schlafprobleme sind bei Kindern, die unter emotionalem Stress stehen, sehr verbreitet. Ihre Essgewohnheiten sind vielleicht auch gestört.« Die Ärztin blätterte wieder in der Akte. »Sagten Sie nicht, dass sie kaum etwas gegessen hat und dass Sie den Verdacht haben, dass sie an etwas Merkwürdigem gekaut hat?«
»Karton.«
»Passt total ins Profil. Ich warne Sie: Es wird weitergehen. Jedes Kind verhält sich anders, doch Grace könnte auch in der Schule auffällig werden. Prügeleien auf dem
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