In Liebe, Rachel
hielt den Atem an, beobachtete den Kampf auf seinem Gesicht, bis es zur Ruhe kam – dann hatte er eine wichtige Entscheidung getroffen. Daran erinnerte sie sich.
»Übermorgen werde ich in ein Dorf etwa hundert Kilometer von hier fahren«, fuhr er fort. »Nur zwei einheimische Ärzte und ich. Es gibt dort ein Krankenhaus, in dem wir drei Kinder operieren werden. Wir werden eine neue kraniofaziale Technik anwenden …« Er machte eine wegwerfende Handbewegung und hielt mitten im Satz inne. »Egal. Was ich eigentlich sagen will, ist … wir könnten eine erfahrene Krankenschwester brauchen.«
Langsam, vorsichtig atmete sie ein. Es war zwar eine seltsame Einladung, zu einem Arbeitseinsatz, doch zweifellos eine Einladung.
»Gern, Colin, ich bin dabei.«
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Kapitel 10
I ndien? Heilige Mutter Gottes, was meinst du damit, sie ist in Indien?«
Durch das Wartezimmer der Kinderpsychiaterin warf eine Mutter mit einem Pagenschnitt Jo einen strafenden Blick zu. Jo klemmte sich das Handy zwischen Ohr und Schulter, packte ihre Handtasche und rettete sich in die Privatheit des Eingangsbereichs.
»Paul, was du sagst, ergibt keinen Sinn«, sagte sie, während sie die Tür des Wartezimmers hinter sich schloss
»Natürlich nicht, es ergibt tatsächlich keinen Sinn. Ich bin derjenige, der in einer Hippiekommune aufgewachsen ist, nicht wahr? Ich bin derjenige, der nach Indien abhauen sollte – wie mein Vater, der nach Nepal ging, um da bei irgendeinem Guru zu lernen …«
»Paul …«
»Stattdessen lässt Kate mich sitzen. Kate, die aus einer ordentlichen Familie aus dem Mittleren Westen kommt, verdammt noch mal!« Im Hintergrund kreischte ein Kind, und etwas fiel mit einem lauten Knall zu Boden. »Michael, geh
sofort
mit dem Basketball nach draußen. Jo … hat sie dir denn nichts davon erzählt?«
»Keinen Ton.« Kate war in Indien?
Ohne die Kinder?
»Wann ist sie geflogen?«
»Vor ungefähr fünfzig Jahren … äh … am Dienstag. Such mal die Fußballschuhe, Tess.
Du
hattest sie zuletzt an,
du
hast sie ausgezogen. Such die verdammten Dinger also selbst!«
Jo lehnte sich an die Wand. Sie hatte überhaupt nicht anrufen wollen. Sie hatte nahezu sämtlichen Stolz über Bord geworfen, um diese verflixte Nummer zu wählen. Doch sie war in einer Arztpraxis, weil sie schon zum zweiten Mal in dieser Woche ärztliche Hilfe benötigte. Ihr Stolz durfte ihr nicht länger im Weg stehen, sonst würde Grace noch im Leichenschauhaus enden. Hier stand sie also, bereit, die Waffen zu strecken, zuzugeben, dass sie Kate gegenüber eine ahnungslose Idiotin gewesen war, elf Jahre lang, dass sie bereit war, sich vor der Großen Mutter und ihrer unendlichen Weisheit in den Staub zu werfen – und dann war Kate nicht einmal da, um sich an ihrem Unglück zu weiden.
»… wenn du die Stollenschuhe beim letzten Mal ordentlich weggeräumt hättest, wären wir jetzt für das Fußballspiel nicht zu spät dran.«
»Paul, wann kommt sie zurück?«
»Gute Frage. Offizieller Rückreisetermin ist Mittwoch in einer Woche, aber sie will schauen, ›wie es läuft‹. Sie hat den Palast des Tipu Sultan noch nicht gesehen. Und man weiß ja nie, was passiert, wenn sich ehemals Liebende wiedertreffen – Sarah könnte etwas
moralische Unterstützung
brauchen.«
»Mittwoch in einer Woche.« Jos große Präsentation war in sechs Tagen. Sie musste nach Grace’ beeindruckendem Wutanfall eine Nanny finden. Keine der Agenturen rief sie zurück, und sie war inzwischen zu der Überzeugung gelangt, dass all diese Nanny-Agenturen untereinander vernetzt waren. »Paul, ich kann nicht bis Mittwoch in einer Woche warten.«
»Ich auch nicht. Dann fährt meine Mutter zurück in ihre Kommune und lacht sich ins Fäustchen. Ich werde meinen Job aufgeben müssen, um mich um die Kinder zu kümmern, denn wenn ich vom Esszimmer aus arbeite, wird Lola, die Herrscherin von Kundahar, am Ende noch Bratpfannen spucken anstatt brennende Gaskugeln … Tess, was meinst du damit, dass wir an der Reihe sind, Snacks mitzubringen? Schau mal in der Speisekammer, was wir haben. Anna, ich mache dir gleich ein Sandwich, also Finger weg von der Erdnussbutter! Jo, ich habe wirklich keine Zeit mehr …«
»Warte! Hast du ihre Telefonnummer in Indien?«
»Mach dir nicht die Mühe. Als ich das letzte Mal angerufen habe, hat sie mich abgewürgt. Hat mir gesagt, wenn ich im ganzen Haus keine Seife finden könne, dann solle ich doch, verdammt noch mal, welche kaufen. Was, zur
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