In Liebe, Rachel
Schulhof, Störungen im Unterricht. Man wird vielleicht versuchen, bei ihr eine Aufmerksamkeitsdefizitstörung zu diagnostizieren, doch Vorsicht! Die hat sie nicht. Grace wird von ihren Emotionen hin- und hergeworfen werden. Sie wird Sie treffen, und dann wird sie abdrehen, und man kann nicht vorhersehen, in welche Richtung. Ihre Aufgabe als ihr Vormund ist es, wachsam zu sein für diese Momente, sie behutsam von selbstzerstörerischem und gewalttätigem Verhalten wegzulenken und sie auf ihre Art trauern zu lassen.«
Jos Knie wurden weich. Sie würde ohnmächtig werden. Sie würde tatsächlich ohnmächtig werden, aber nicht so anmutig wie ein Mädchen aus den Südstaaten normalerweise.
»Das alles wird sich bestimmt nicht so bald ändern«, fuhr die Psychiaterin fort. »Grace hat ihre Mutter verloren, und das ist endgültig. Sie wird dreizehn Jahre alt werden und zum ersten Mal ihre Periode bekommen, und dabei wird sie plötzlich in Tränen ausbrechen, weil ihre Mutter nicht da ist, um diesen Moment mit ihr zu teilen.«
Ein roter Schleier zog sich über Jos Blickfeld. Dr. Rodriguez notierte etwas auf einem kleinen blauen Zettelblock.
»Das wird für eine Weile helfen.« Die Psychiaterin riss das Rezept ab. »Es ist ein mildes Mittel, aber es wird ihr helfen zu schlafen.« Sie füllte ein neues Rezept aus. Klackklackklack. »Und dieses kann ihr über den schlimmsten Schock hinweghelfen. Wenn Sie sie in acht Wochen zur erneuten Beurteilung herbringen, werden wir die Dosierung neu einstellen …«
»Dosierung?« Jo starrte auf die Rezepte. Sie kannte das Medikament. Erst vor kurzem hatte sie daran gedacht, es sich selbst verschreiben zu lassen. »Sie wollen Grace Antidepressiva geben?«
»Sie sind sehr mild, haben nur eine schwache Wirkung. Grace ist traumatisiert. Sie braucht Zeit.«
»Nein!«
Hatte sie tatsächlich laut gesprochen?
»Es ist Ihre Entscheidung, aber überlegen Sie es sich. Es ist nur für eine begrenzte Zeit. Um Ihrer beider willen.«
Die Psychiaterin setzte ihre Brille auf und erhob sich. Das Gespräch war beendet. Jo stand ebenfalls auf, mit zitternden Beinen. Ihr Handy brachte die ganze Tasche zum Vibrieren. Beide Rezepte in der Hand, ging sie benommen aus dem Büro in das Spielzimmer, um Grace abzuholen.
»Okay, Grace«, sagte Jo und blickte auf den Fleck, den ihr Daumen auf den kleinen blauen Zetteln hinterlassen hatte. »Es ist Zeit zu gehen.«
Das Mädchen antwortete nicht. Sie war in den Bau einer Burg aus Bauklötzen vertieft.
»Grace …«
»Ich bin fast fertig.«
Jo zerknüllte die Rezepte in der Hand. Grace war erst seit knapp zwei Wochen bei ihr, und schon dachte sie darüber nach, das Mädchen unter Drogen zu setzen. Alles in ihr sträubte sich dagegen, aber konnte sie ihrem Bauchgefühl wirklich vertrauen? Was wusste sie denn schon über die Erziehung eines normalen, glücklichen Kindes, geschweige denn über die eines emotional und psychisch traumatisierten Kindes? Was wusste sie über die verschiedenen Zubereitungsarten von Makkaroni mit Käse? Was wusste sie über die Langzeitbetreuung eines potenziell gewalttätigen und trauernden Kindes? Wie sollte sie mit den täglichen Anforderungen eines bedürftigen Kindes fertig werden, wenn selbst ihre Martha-Stewart-Freundin einen Mann hatte, der seine eigenen drei Kinder kaum unter Kontrolle bekam?
Ihre Hände zitterten. Und nicht nur die. Ihr ganzer Körper zitterte, von Kopf bis Fuß. Sie sank in einen roten Plastikstuhl, der zu klein für ihren Kentucky-Hintern war. Sie vibrierte wie das verflixte Telefon in ihrer Tasche.
Als sie es aufklappte, ertönte Hectors panische Stimme.
»Hör zu, Jo, du musst ehrlich mit mir sein. Liegst du irgendwo am Strand einer tropischen Insel? Denn wenn du das tust …«
»Gott, ich wünschte, ich wäre dort.«
»Wann also kommst du
ins Büro?
«
»Bald.«
»Wenn du nicht
sehr
bald kommst, dann kannst du den Kunden vergessen.«
Jo schloss die Augen und massierte ihren Nasenrücken. »Was ist denn jetzt schon wieder los?«
»Miss Sophie gibt wirklich alles bei der Präsentation. Sie hat das ganze Büro dazu gebracht, für Miss Koksnase als Gesicht von
Mystery
zu stimmen, und die Grafiker …«
»Was? Habt ihr denn immer noch keine Alternative? Muss ich denn alles selbst machen?«
Hector verstummte. Sie spürte durch die Leitung, wie verletzt er war. Im Hintergrund konnte Jo auch das Geräusch von tippenden Fingern auf einer Computertastatur hören, undeutliche Stimmen und das
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