In Liebe, Rachel
Hölle, ist in sie gefahren?«
»Gib mir die Nummer, Paul. Mir wird sie zuhören.«
»Sie wohnt im
The Chancery
in Bangalore. Sarah hatte versucht, sie in irgendeiner Absteige mit Wanzen und ohne Spültoiletten unterzubringen. Mir wäre es mittlerweile lieber, Kate würde zum Fallschirmspringen gehen.« Er raschelte mit einigen Papieren, während er Tess drängte, ihre Fußballschuhe anzuziehen und ins Auto zu steigen. »Und wenn du sie erreichst«, sagte er, nachdem er ihr die Telefonnummer durchgegeben hatte, »frag sie doch bitte, wo sie die Glühbirnen aufbewahrt und wo Annas Sockenpuppe ist und warum wir kein Waschmittel mehr haben.«
»Klar, mach ich.«
»Hey, einen Moment noch … Jo?«
»Noch dran.«
»Du bist eine Frau.«
»Süßer, glaub mir, das habe ich auch schon bemerkt.«
»Wo kann man Styroporbälle und hölzerne Wäscheklammern kaufen?«
Jo lehnte die Stirn an die Wand. Sie konnte Tess’ Rufe im Hintergrund hören, Annas Weinen und das entfernte Geräusch eines Balls, der auf einen Holzboden aufprallte.
Paul stieß einen langen, erschöpften Seufzer aus. »Ja, ja, ich weiß, blöde Frage. Ich dachte nur, du als Frau …«
»Paul, ich verrate dir mal, was ich gelernt habe. Talent zur Mutterschaft? Das hat man nicht automatisch, nur weil man Titten hat.«
Jo unterbrach die Verbindung, klappte das Telefon zu und schaltete es auf Vibrationsalarm, während sie ins Wartezimmer zurückkehrte. Sie versuchte, nicht an Paul zu denken, der seit über zehn Jahren Vater war und schon nach ein paar Tagen allein mit seinen eigenen Kindern den Verstand verlor. Wie sollte da sie, die nie Mutter gewesen war, sich um ein halbpsychotisches Waisenkind kümmern?
Eine Frau in einer an Schwester Ratched erinnernden Tracht warf einen Blick um die Ecke. »Ms Marcum? Dr. Maria Rodriguez hat jetzt Zeit für Sie.«
Es stellte sich heraus, dass Dr. Rodriguez etwa halb so alt wie Jo war, was sie durch einen strengen Haarknoten und eine übergroße Brille mit flaschendicken Gläsern zu verbergen suchte. Als Jo das Büro betrat, sprang die Therapeutin auf, kam um den Tisch herum und streckte ihr eine Hand mit so langen falschen Fingernägeln entgegen, dass sie als Waffen hätten durchgehen können.
»Ms Marcum, ich bin Dr. Rodriguez.« Sie verzog den Mund zu einem angedeuteten Lächeln. »Grace ist also Ihre Tochter?«
»Nun, sie ist nicht meine leibliche …«
»Ich weiß, ich habe die Akte gelesen.« Die Nägel klackerten, als sie Jos Erklärung wegwedelte. »Grace ist ein großartiges Kind, aufgeschlossen und blitzgescheit. Aber sie hat auch viel mitgemacht. Erzählen Sie mir doch, wie es zu der Wunde an ihrer Stirn kam.«
Jo blinzelte. Dies war jetzt das dritte Mal, dass man sie das in der psychiatrischen Praxis fragte. »Sie ist in meiner Wohnung die Treppe hinuntergefallen und hat sich dabei die Stirn an der Tischkante aufgeschlagen.«
»Die müssen Sie abpolstern lassen«, antwortete die Psychiaterin und klackerte wieder mit den Fingernägeln. »Es gibt da etwas, das sich
Glasswrap
nennt. Es passt genau um die Kanten. Wie ist sie gefallen?«
Jos Telefon vibrierte, doch sie ignorierte es. »Es war die erste Nacht in meiner Wohnung. Ich vermute, sie hat die Stufen nicht gesehen …«
»Wahrscheinlich ist sie schlafgewandelt.« Die Psychiaterin nickte, setzte sich dann wieder hinter ihren Schreibtisch und notierte etwas auf ihrem Block. »Ja, Schlafwandeln. Das passt ins Profil.«
»Profil?«
Dr. Rodriguez rutschte auf ihrem Stuhl herum, nahm ihre Brille ab und legte sie auf die Akte. »Ms Marcum, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Sie haben es …« – sie gestikulierte in Grace’ Richtung, die hinter einem großen Fenster in einem Zimmer spielte, das so gelb gestrichen war, dass es in den Augen schmerzte – »… mit einem absolut normalen Kind zu tun.«
Jo hätte sich erleichtert fühlen müssen, doch stattdessen hatte sie Angst. Sie konnte das Bild von Grace’ verzerrtem Gesicht einfach nicht verdrängen, als das Mädchen den Teller mit Makkaroni mit drei Käsesorten durch die Küche geworfen hatte.
»Was nicht bedeutet, dass sie keine Probleme hat.« Klackklackklack machten die Nägel. »Und was für Probleme Grace hat! Ich meine, denken Sie nur daran, wie sich ihr Leben in den letzten zwei Wochen verändert hat. Ihre Mutter ist tot – das übersteigt ihre Vorstellungskraft übrigens noch –, dazu kommt ein plötzlicher Wohnortwechsel, der sie nicht nur von ihren
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