In Liebe, Rachel
noch. Angezogen und außer Sichtweite würde sie sich der Schuld stellen, sie würde das Zittern zulassen, und sie würde den nächsten Flug nach … egal, irgendwohin nehmen. Nur nicht hierbleiben.
»Ich habe deinen beruflichen Werdegang verfolgt, weißt du.«
Seine Stimme ließ sie innehalten.
»Nachdem du das Corps verlassen hattest«, fuhr er fort und rieb sich über die Bartstoppeln an der Wange, »hast du einen Abschluss als Krankenschwester an der New York University gemacht. Ich konnte mir dich nicht in dieser großen Stadt vorstellen.«
Ein Prickeln wanderte ihren Rücken hinauf.
»Du hast dich
Ärzte ohne Grenzen
angeschlossen. Ich weiß noch, wie ich gedacht habe, dass du genau dort hingehörst.« Er verlagerte das Gewicht, den Rücken an die Wand gelehnt, und legte den Kopf in den Nacken, um den Stuck an der Zimmerdecke zu betrachten. »Weißt du, wie oft ich an dich gedacht habe, wie du allein in diesem schlammigen Dorf in Paraguay gearbeitet hast, wie du Guaraní gelernt hast, als wäre es deine Muttersprache? Du bist mit dieser Welt verschmolzen. Niemals bist du wütend geworden, weil nie etwas funktioniert hat, weil keiner pünktlich kam und weil nie Geld da war.«
Das Prickeln verstärkte sich, und eine neue Schwäche bedrohte ihren Verstand.
»Im Krankenhaus habe ich den Chirurgen zugesehen und den anderen Assistenzärzten gesagt: ›Das hier ist gar nichts. Versucht mal, in einer Schlammhütte zu operieren.‹ Ich habe ihnen gesagt: ›Geht in die Dritte Welt! Dort bekommt ihr in zwei Wochen mehr OP -Praxis als hier in zwei Jahren.‹ Ich habe ihnen gesagt: ›Dort habe ich eine Frau kennengelernt. Sie hat ein Gesicht wie ein Engel von Botticelli, doch ein Rückgrat aus Stahl. Sie hat nicht eine Miene verzogen, als sie Blutegel aus dem zerfetzten Bein eines Kindes pflückte …‹«
»Der Junge – Werai – ist mittlerweile verheiratet«, unterbrach sie ihn. Sie musste wieder zu Atem zu kommen. »Und er hat zwei Kinder. Der ältere Sohn heißt Colin.«
»Tatsächlich!« Colin lachte kurz auf, dann blickte er sie an. »Ich kann immer noch nicht glauben, dass du hier bist. Es ist, als ob der Himmel dich geschickt hätte.«
Ihr Herz schlug wie wild. Schwarze Flecken engten ihr Sichtfeld ein. Sie war geschickt worden. Von Rachel. Und vielleicht durch Rachel auch von einer höheren Macht. Ihre Gebete waren einmal erhört worden, als Colin damals eintraf, um Werai zu retten … und jetzt waren sie hier, beieinander.
Vielleicht hatte Kate doch recht damit gehabt, dass man um die Liebe kämpfen musste.
Dann schlug er sich plötzlich mit den Händen auf die Knie. »Ich kann jetzt nicht darüber nachdenken.« Er warf einen Blick auf die Uhr auf dem Nachttisch. »So seltsam das klingen mag, aber ich sage die Wahrheit wegen der Podiumsdiskussion um halb zehn.« Er richtete sich auf, das Hemd klaffte über der nackten Brust. »Ich muss mich waschen, meine Unterlagen zusammensuchen und mich vorbereiten.«
Sarah nickte und versuchte, ihre Atmung unter Kontrolle zu bringen. Sie spürte, wie es in seinem Kopf arbeitete, wie er einzelne Punkte ordnete, um sie dann der Reihe nach zu bearbeiten. »Ich bin vorübergehend vom Flüchtlingscamp beurlaubt«, sagte sie und wäre gern zu einer seiner Prioritäten geworden. »Ich kann zwei Tage bleiben … oder aber zwei Wochen.«
Oder zwei Monate. Oder länger. Ihr Vorgesetzter in der Niederlassung von
Ärzte ohne Grenzen
in der Nähe von Bujumbura hatte es deutlich gesagt. Er wusste, wie es war, in einem Flüchtlingscamp zu leben. Außerdem wusste er von dem verletzten Mädchen mit den schiefen Zöpfen, das gebrochene kleine Mädchen, das Sam aus der schmutzigen Gasse gerettet und in die Klinik gebracht hatte, damit Sarah sich um die Kleine kümmern konnte. Als Sarah dann Urlaub beantragt hatte, um an Rachels Beerdigung teilnehmen zu können, hatte ihr Vorgesetzter gesagt, sie könne sich so lange freinehmen, wie sie wollte.
Was, wie sie jetzt erkannte, ganz von Colin abhing.
Er trat an den Bettrand. Sein Blick strich über ihre nackten Schultern, eine Berührung so heiß wie eine Hand. Er folgte der Einbuchtung unter ihrer Kehle, glitt über ihre Sommersprossen zum Rand des Lakens, das sie hatte sinken lassen, gefährlich nahe an den Ansatz ihrer Brüste, wo er letzte Nacht seine Wange gerieben hatte, bis sie gestöhnt hatte.
»Wenn ich ein besserer Mann wäre«, murmelte er, »würde ich sagen, dass du sofort nach Hause fahren solltest.«
Sie
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