In Liebe, Rachel
Modellbauzüge. Sie ließ einen Waggon auf ihrer Handfläche hin- und herfahren.
»Möchtest du einen davon?«, fragte Jo und dachte, dass das Set mehr kostete, als sie je im Leben für Spielzeug ausgegeben hatte. »Die machen bestimmt viel Spaß.«
Grace antwortete nicht sofort. Sie stellte den Waggon ab und nahm einen anderen. Sie betrachtete ihn so angestrengt, als ob sie versuchte, die Hieroglyphen auf der Seite zu lesen. »Du hast gesagt, es ist egal, was ich mir aussuche, nicht wahr?«
Also doch die Drei-Meter-Giraffe. »Was du willst, Kleine.«
Grace stellte den Waggon ab, drehte sich um und ging zurück zu den Gängen mit den Malutensilien, an den Regalen mit Vorschulspielzeug vorbei, der Knete und den Babypuppen, die man füttern, wickeln und pupsen lassen konnte. Grace ging bis zur allerletzten Regalreihe des Ladens. Dort stellte sie sich auf die Zehenspitzen und holte die dritte Schachtel herunter. Nicht die zweite, nicht die erste. Die dritte, vom vierten Regalbrett von unten.
Grace hielt eine altmodische Barbiepuppe in der Hand, komplett mit blauem Lidschatten, schwingenden blonden Locken und einem pinkfarbenen Organzaballkleid mit goldenem Glitzer.
Jo sah Grace an, wie sie sie noch nie zuvor angesehen hatte. Sah, wie sehnsüchtig Grace die Puppe mit ihrer ach so perfekten Figur und den hohen Wangenknochen und den gebogenen Füßen, die in durchsichtigen Plastikschühchen steckten, betrachtete. Sie sah
Grace
mit ihrem zerzausten langen Haar und den Hochwasserhosen. Bemerkte das schmutzige pinkfarbene Band, das sie wie ein Armband um ihr Handgelenk geknotet hatte, und die pinkfarbenen Baumwollturnschuhe, die auch schon bessere Tage gesehen hatten.
Grace murmelte: »Darf ich die hier haben?«
Die Erkenntnis traf Jo wie der Schlag. Endlich fielen einige Puzzleteilchen an ihren Platz.
Sie stellte sich Rachel vor, die mit Grace durch diese Gänge hier ging. Stellte sich vor, was Rachel beim Anblick einer Barbie sagen würde.
Schau dir die nur an, Grace, so sieht doch keine Frau auf der ganzen Welt aus. Krankhaft dürr, riesige Brüste. Und wer trägt denn überhaupt noch solche Kleider? Los, wir gehen zu den Rollerblades.
Und sie stellte sich Jessie vor, erschöpft, weil sie dauernd irgendeinen Verwandten zum Arzt fahren musste, wie sie Grace in der Tagesstätte unterbrachte.
Nein, Grace, du kannst heute nicht mitkommen. Du wirst bei Lots o’ Tots bleiben. Vielleicht kann morgen die alte Mrs Henson auf dich aufpassen. Nein, Grace, du musst leider auch am Nachmittag hin. Magst du das Essen dort nicht? Du kannst da aber auf dem Spielplatz spielen. Grace, Liebes, nimm deinen Gameboy mit, wir werden eine ganze Weile in der Arztpraxis sein … Grace, deine Mutter ist müde. Fahr doch draußen ein bisschen mit dem Roller, bist du so lieb?
Sie stellte sich vor, wie Rachel die dunklen Feenhaare ausfielen, als die Chemotherapie in ihrem Körper wütete. Wie die rasch fortschreitende Krankheit das Leuchten aus ihrem Gesicht riss, die Weichheit aus ihrer Haut. Dass sie eine blonde Perücke tragen würde, denn das wäre genau Rachels Humor: als Blondine zu sterben. Außerdem würde sie Grace nicht mit der haarlosen Wahrheit ängstigen wollen.
Rachel, du hättest es uns sagen sollen. Wir hätten dir helfen können.
Jo ging in die Knie. Grace blickte immer noch auf die Puppe, ihre Fingerknöchel traten weiß hervor, so fest umklammerte sie die Schachtel.
Jo sagte: »Oh, das ist aber eine wunderschöne Barbie.«
Grace betrachtete gebannt ihren Schatz. »Sie hat so schöne Haare.«
»Schau, es ist auch eine Bürste dabei«, bemerkte Jo und warf einen Blick auf Grace’ wilden Schopf. »Es wird großartig sein, sie zu bürsten. Du hast eine gute Wahl getroffen, Kleine.«
Niemand hatte es bemerkt. Nicht Jessie, nicht Grace’ Großeltern, nicht einmal Rachel, alle waren sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen. Wer hätte denn erwartet, dass Rachels Kind – das Kind der Superathletin, dem Adrenalinjunkie, dem größten Wildfang auf Erden – ein richtiges kleines Mädchen werden würde?
So einfach konnte es doch nicht sein. Kinder waren kompliziert, irrational und unkontrollierbar. Sie durfte sich nicht einbilden, dass alle Probleme so einfach zu lösen wären. Es war nicht einfach nur der Kauf eines banalen Spielzeugs, der das Leuchten auf Grace’ Gesicht gezaubert hatte. Jo wusste, dass sie Grace alle Spielzeuge der Welt kaufen könnte und sie damit nicht glücklicher machen würde. Grace
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