In Liebe, Rachel
dass er sagte, wie überwältigt er sei, dass er sich ebenfalls daran erinnere, was sie miteinander gehabt hatten, was sie geteilt hatten, vor langer Zeit.
»Offensichtlich hast du
mich
ganz vergessen.« Wieder griff sie in den Stoff ihres Nachthemdes. »Oder vielleicht hast du auch nur aufgehört …«
Mich zu lieben.
Sie ließ den Hörer in ihren Schoß fallen. Er glitt über die rote Seide und fiel zu Boden. Sie hörte, wie Paul mehrfach ihren Namen rief, immer zorniger wurde. Als sie nicht antwortete, unterbrach er die Verbindung.
Hundert Jahre später betrat Sarah das Zimmer. Sie legte den Telefonhörer auf und ging vor Kate in die Knie.
Ihre Hände waren warm und noch feucht von der Dusche, und ihr Gesicht war weich vor Mitgefühl, eingerahmt von kleinen nassen Locken. »Keine guten Nachrichten, hm?«
Kate schüttelte den Kopf.
Ich weiß nicht mehr, wer du überhaupt bist.
»O Kate!« Sarahs Griff verstärkte sich. »Ich will dich hier nicht allein lassen.«
Kate stand wie betäubt auf. Sie ging zu der Kommode und zog die Schublade unter dem Fernseher auf. Vorgestern war sie bei einem Sariverkäufer gewesen und hatte barfuß auf einer weißen Baumwollmatratze gesessen, während der Verkäufer ihr einen Ballen schillernder Seide nach dem anderen präsentiert hatte. Sie zog das aus einem kaftanartigen Oberteil und einer weiten Hose bestehende saphirblaue Punjabi-Gewand hervor, das sie hatte anfertigen lassen. Die Farbe erinnerte sie an Pauls Augen, deshalb hatte sie sie ausgesucht.
»Dann nimm mich mit, Sarah«, sagte sie, während sie achtlos ihr Nachthemd abstreifte und es mit einem Tritt unters Bett beförderte. »Ich brauche ein bisschen Leben um mich herum.«
In der Lobby herrschte Chaos. Zwei Männer stritten mit dem Portier. Gepäckträger trugen Arzttaschen zu einem wartenden Kleinbus. Eine Gruppe Ärzte unterhielt sich erregt neben den Eingangstüren. Eine Inderin im traditionellen Sari stand ein Stück von ihnen entfernt, rauchte ruhig eine Zigarette und beobachtete die Männer mit einem ebenso amüsierten wie gelangweilten Gesichtsausdruck.
Kate trat hinter Sarah aus dem Lift, immer noch mitgenommen von dem Gespräch mit Paul. Sarah steuerte mit entschlossenen Schritten durch die Lobby auf die Ärzte bei den Türen zu und berührte dort den Arm eines breitschultrigen Amerikaners.
Das musste der berühmte Colin O’Rourke sein. Kate betrachtete ihn wie aus weiter Ferne. Als er sie bei ihrer Ankunft im Hotel untersucht hatte, war sie zu benommen gewesen, um ihn sich genauer anzusehen. Sie wusste, dass Jo einen detaillierten Bericht erwartete. Sarah hatte kein Foto von ihm, und nachdem er sie verlassen hatte, war es zu schmerzhaft gewesen, seinen Namen zu erwähnen, geschweige denn Sarah zu fragen, wie er aussah. Wegen seiner Kunststückchen im Dschungel hatten sie sich ihn als einen etwas schmuddeligen Clive-Owen-Verschnitt vorgestellt. Einen von eher schroffer Attraktivität. Verschwitzt, mit Bartstoppeln, einen Einzelgänger mit schmutzigen Fingernägeln, der voll und ganz in seiner Arbeit aufging.
Ganz sicher hatten sie sich nicht diesen typischen Amerikaner mit den Khakihosen vorgestellt, der sich nun zu ihr umdrehte, angetan mit einem ordentlich gebügelten Hemd und einer gelben Brooks-Brothers-Krawatte. Er war nur ein paar Knitterfalten von einer Firmenuniform entfernt.
Wie Paul eine trug.
Nein, ich darf jetzt nicht daran denken!
Colin ergriff Kates Hand und lächelte sie offen an. Ein blendendes Lächeln. Die Zähne ganz klar gebleicht. »Als ich Sie das letzte Mal gesehen habe«, sagte er und musterte ihr Gesicht mit ausdrucksvollen Augen, »haben Sie von Einhörnern geträumt.«
»Es geht mir jetzt besser.«
»Sie sehen auch besser aus. Wie gefällt Ihnen Bangalore? Ich habe gehört, dass Sie auf einem Elefantenritt durch den Dschungel waren.«
»Wir haben gecampt und hinter dem Graben Tiger brüllen gehört.«
Es schien sehr lange her zu sein und seltsam unwichtig.
»Ich habe das schon seit Jahren nicht mehr gemacht«, sagte Colin. »In welchem Naturschutzgebiet waren Sie denn?«
Er ist gut im Small Talk, dachte Kate, während sie sich unter Sarahs nervösem Blick unterhielten. Doch sie fragte sich auch: Ist das wirklich der legendäre Dr. O’Rourke? Sarah hätte diesen Mann auf dem Campus jeder Universität treffen können, die ein Lacrosse-Team der National Collegiate Athletic Association hatte. Er war etwas älter als sie selbst, schlank und durchtrainiert, doch
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