In Liebe, Rachel
wo sie Holz hackte und die Hühner fütterte und durch die Green Mountains spaziert war. Rachel hatte sie schließlich dort herausgeholt und nach New York gebracht. Sarah war bis auf die Knochen abgemagert gewesen, hohlwangig und abgezehrt.
Doch Rachel war nicht mehr da.
Kate berührte Sarahs Arm, als sie an ihr vorbeiging. »Ich mache mir Sorgen um dich, Sarah-Belle.«
»Das weiß ich.« Sarah drehte sich um und warf Kate ein müdes Lächeln zu. »Aber ich kann jetzt wirklich nicht reden. Ich muss duschen und dann nach unten. Colin fährt mit einem Chirurgenteam in ein Dorf südlich von hier. Es wurde verlegt, heute soll dort operiert werden. Er hat mich gefragt, ob ich sie begleite. Sie könnten noch eine zusätzliche Krankenschwester brauchen. Ich treffe mich in zwanzig Minuten mit ihnen.«
»Oh!«
Sarah warf Kate einen scharfen Blick zu. »Ist das etwa ein Problem? Es sieht doch so aus, als wolltest du mich sowieso nicht hier haben, wenn Paul kommt.«
»Ist dieser Ausflug gefährlich?«
»Hör dir doch mal selbst zu!« Sarah schob eine leere Kunststoffwasserflasche mit dem Fuß zur Seite und hielt dann mit der Hand am Knauf der Tür zum Bad inne. »Wir sind hier in Indien, Kate, in einem zivilisierten, demokratischen, überbevölkerten und vollkommen unberechenbaren Land. Ich mache mir nicht die geringsten Sorgen. Und du solltest dir auch keine machen.« Mit diesen Worten schloss sie die Badezimmertür hinter sich.
Kate kaute auf ihrer Unterlippe, während Sarah die Dusche laufen ließ. Paul würde sicher heute ankommen, doch Kate wusste nicht, wann. Flugzeuge verspäteten sich, Anschlussflüge wurden verpasst. Vielleicht war es auch nicht so einfach gewesen, bei der Arbeit alles zu organisieren. Die Vorstellung, den ganzen Tag in einem Zustand unterschwelliger sexueller Erregung zu verbringen und auf seine Ankunft zu warten, behagte ihr gar nicht. In Bangalore hatte sie sich schon gründlich umgesehen und die Gärten, den Markt, die Hindu-Ruinen und die Paläste besucht. Da wäre es doch eine gute Idee, das Abenteuer noch ein wenig anzureichern und die seltene Gelegenheit zu ergreifen, Sarah bei der Arbeit zuzusehen. Vielleicht konnte sie ihr so doch noch ein paar Informationen entlocken.
Damit würde sie allerdings Pauls Überraschung zunichtemachen.
Zehn Minuten später, nachdem sie zwei Dutzend Ziffern für das Überseetelefonat eingetippt hatte, hielt Kate den Telefonhörer ans Ohr und wartete darauf, dass daheim jemand abnahm. Schließlich hörte sie die Stimme von Pauls Mutter.
»Barbara? Ich bin’s, Kate.«
»Ah, die Braut auf der Flucht.« Barbara hielt inne, und durch die knisternde Leitung konnte Kate hören, wie ihre Schwiegermutter andächtig an einer Zigarette zog – wahrscheinlich an einer Virginia Slim. »Bist du noch in Indien?«
»Hörst du das nicht an der Verbindung?«
»Schön für dich.« Barbara blies geräuschvoll den Rauch aus. »Und? Hast du meinen nichtsnutzigen, diebischen Ehemann schon gesehen? Er hat wahrscheinlich eine Glatze und einen dicken Bauch und trägt eine dieser roten Togas.«
»Barbara, ich habe es dir doch schon gesagt! Ich bin in Indien, nicht in Nepal. Hier werde ich ihn wohl kaum treffen.«
Kate hätte nicht einmal gewusst, wie er aussah. Alles, was Paul von seinem Vater besaß, waren ein paar dreißig Jahre alte Fotos, die einen vollbärtigen, dürren Mann mit nacktem Oberkörper und tief sitzenden Hüftjeans zeigten.
»Man weiß nie, wo der Mistkerl sich gerade rumtreibt. Wenn du ihn siehst, hau ihm an meiner Stelle eine rein. Es darf auch gern etwas mehr sein. Und sag ihm, von wem es kommt.«
»Klar, mach ich.«
»Und bleib ruhig ein paar Tage länger. Mach dir eine schöne Zeit. Jetzt verstehe ich, warum du mich hierherbestellt und dabei wie eine Verrückte geklungen hast.« Barbara zog wieder deutlich hörbar an ihrer Zigarette. Kate hoffte, sie rauchte auf der Terrasse und nicht im Haus. »Das hier ist ein Irrenhaus. Die ganze Zeit klingelt das Telefon, der Postberg ist fünfzehn Zentimeter hoch, dauernd läutet es an der Tür, seltsame Frauen kommen ins Haus und holen deine Kinder ab, und die Schmutzwäsche wächst im Keller wie Pilze im Mist.«
Kate schloss die Augen. Sie wollte das alles gar nicht wissen, wollte es sich nicht einmal vorstellen. Barbara – die Paul in einer kalifornischen Hippiekommune aufgezogen hatte – lebte einigermaßen sorglos in Unordnung. Eine Eigenart, die Kate, als sie die schmutzigen Gläser und die
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