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In Liebe, Rachel

In Liebe, Rachel

Titel: In Liebe, Rachel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Higgins
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Gelegenheiten für einen Perspektivenwechsel, für den Überblick.
Wir waren so schlecht im Fotografieren. Ich kann kaum sagen, wer wer ist. Wir sind alle nur Umrisse vor der aufgehenden Sonne. Schau: Da ist deine Mutter. Weißt du, was sie da gerade macht? Sie verzieht sich mit einer Rolle Klopapier in die Büsche. Wenn man campt, muss man draußen aufs Klo gehen. Ignorier die nächsten Fotos einfach. Wir wurden im Laufe des Abends ziemlich albern. Deshalb gibt es so viele schlechte Bilder von Daumen und abgeschnittenen Köpfen.
    Bis auf dieses hier. Wahnsinn, welch tolles Lächeln deine Mutter hatte!
    Grace fuhr mit dem Finger über die Nahaufnahme. Rachel war eine Frau mit Charisma gewesen, von intensiver Präsenz, und hier war sie, festgehalten auf Fotopapier, voller Lebensfreude. Wie war es nur möglich, dass Rachel nicht mehr auf dieser Welt war? Jo hatte es immer noch nicht begriffen. Manchmal, wenn das Telefon klingelte, erwartete sie, Rachels Stimme zu hören, Rachel, die sie von irgendeinem exotischen Ort aus anrief … Plötzlich bemerkte sie, dass Grace über dem Fotoalbum erstarrt war, dass ihr kleiner rosa Finger unbeweglich auf dem Bild ruhte, und sie fragte sich, wie das kleine Mädchen mit dieser Lücke in seinem Leben fertig werden sollte, wenn sie selbst derart von dem Verlust der Freundin überwältigt wurde.
    »Gracie, ich zeige dir noch ein anderes.« Jo blätterte durch das Album, bis sie das gesuchte Bild fand. »Schau dir das an«, sagte sie. »Erkennst du jemanden? Ja, das bin ich, und das ist Mrs Jansen, und das hier ist Sarah. Wieso wir wie schwarz-weiße Hasen angezogen sind? Das war für eine Halloween-Party. Errätst du, wer das hier in der Mitte ist? Ja, das ist deine Mom. Deine Mom als Tinker Bell!«
    Grace brach in Gelächter aus, das viel lauter war, als man es von solch einem kleinen Mädchen erwartet hätte. Es war ein spontaner Ausbruch purer Heiterkeit, so unerwartet und befreiend, dass Jo einfach einstimmen musste.
    Grace lehnte sich an ihre Schulter, ihr Brustkorb bebte vor Lachen. Jo legte den Arm um sie und drückte sie an sich. Grace’ feuchtes Haar wärmte ihre Schulter, und Jo spürte die Erschütterungen des Gelächters im ganzen Körper. Jo atmete tief den Duft nach Passionsfruchtschaumbad ein, während eine behagliche Blase in ihrer Brust wuchs, ein unbekanntes, hauchzartes Gefühl, das sie ängstigte.
    … und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage.
    Mit zitternden Händen schloss Jo das Album und legte es auf Grace’ Nachttisch. Sie wünschte dem Kind eine gute Nacht, löschte das Licht und lehnte die Zimmertür an, als sie hinausging. Barfuß lief sie die Treppen hinunter und geradewegs in die Küche, wo sie ihre Auswahl an Alkohol betrachtete.
    Ein kleiner Kentucky Bourbon sollte reichen.
    Sie goss sich einen ordentlichen Schluck ein und dachte an ihre Jugend zurück. Die meisten Märchen, an die Jo sich erinnerte, stammten nicht von Disney, sondern eher von den Brüdern Grimm. Die wichtigste Lektion daraus war: Wenn eine Mutter jung stirbt, dann helfe Gott den Waisen. Viel zu oft wurden sie von der Hexe im Wald gefressen.
    Oder sie wurden von Pflegestelle zu Pflegestelle gereicht, wo erschöpfte Pflegemütter sich darum bemühten, in eine bunt gemischte Sammlung von verletzten und verlassenen Kindern, aus der sie versuchten, eine Familie zu machen, eine weitere verlorene Seele aufzunehmen.
    Jo schloss die Augen, als der brennende Bourbon ihre Kehle hinunterrann. Doch der Alkohol half nicht. Die Erinnerungen waren stärker. Sie goss sich noch einen Schluck ein, hielt dann jedoch inne und starrte auf die bernsteinfarbene Flüssigkeit in ihrem Glas. Es gab nicht annähernd genug Bourbon nördlich der Mason-Dixie-Linie, dass sie das Gefühl, nicht gewollt zu sein, vergessen könnte.
    Sie hatte früher nie viel über diese Frauen nachgedacht. Damals waren sie Fremde gewesen, Autoritätspersonen, die man ihr aufgezwungen hatte, um sicherzugehen, dass sie die Schule besuchte, nahrhafte Mahlzeiten zu sich nahm, in der Bibel las und sich von den jungen Kerlen fernhielt, die hinter der Maschinenhalle rauchten und Apfelschnaps tranken. Es waren sicher wirklich gute Seelen gewesen, die sich eine so undankbare Aufgabe aufgebürdet hatten. Doch schon die verlassene, verwaiste Zwölfjährige hatte sich dazu gezwungen, sich emotional nicht an einen anderen Menschen zu binden. Wie ihre Mutter konnten diese Pflegemütter schließlich schon morgen wieder verschwunden sein.

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