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In meinem Himmel

Titel: In meinem Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Sebold
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dem Dad von deiner Freundin Keesha?«
    »Leg die Sachen hin.«
    Mein Vater legte sie behutsam auf die Erde.
    »Es geht nicht um Keeshas Dad.«
    »Dann sag mir, worum es geht.« Mein Vater war jetzt ganz präsent. Er kehrte zurück an den Ort, wo er nach seiner Knieoperation gewesen war, als er aus dem von Betäubungsmitteln berauschten Schlaf aufgetaucht war und seinen damals fünfjährigen Sohn neben sich sitzen sah, der darauf wartete, dass seine Augenlider flatterten, damit er »Kuckkuck, Daddy« sagen konnte.
    »Sie ist tot.«
    Es hörte nie auf zu schmerzen. »Das weiß ich.«
    »Du verhältst dich aber nicht so. Keeshas Dad ist gestorben, als Keesha sechs war. Keesha sagt, sie denkt kaum noch an ihn.«
    »Das wird sie schon noch«, sagte mein Vater.
    »Und was ist mit uns?«
    »Mit wem?«
    »Mit uns, Dad. Mit mir und Lindsey. Mom ist gegangen, weil sie es nicht mehr ausgehalten hat.«
    »Beruhige dich, Buck«, sagte mein Vater. Er war so großzügig, wie er nur konnte, während sich die Luft aus seinen Lungen in seine Brust verflüchtigte. Dann sagte eine kleine Stimme in ihm:
Lass los, lass los, lass los.
 »Was?«, fragte mein Vater.
    »Ich habe nichts gesagt.«
    Lass los. Lass los. Lass los.
    »
Entschuldige«, sagte mein Vater. »Es geht mir nicht besonders.« Seine Füße waren in dem feuchten Gras unglaublich kalt geworden. Seine Brust fühlte sich hohl an, als ob Insekten in einem leeren Raum umherschwirrten. Das Echo, das darin war, trommelte in seinen Ohren.
Lass los.
    Mein Vater sank auf die Knie. Sein Arm begann zu kribbeln, als wäre er eingeschlafen. Ein Prickeln und Stechen von oben nach unten. Mein Bruder stürzte zu ihm.
    »Dad?«
    »Junge.« Ein Zittern war in seiner Stimme, als er nach meinem Bruder griff.
    »Ich hole Grandma.« Und Buckley rannte.
    Auf der Seite liegend, das Gesicht verrenkt in Richtung meiner alten Sachen, flüsterte mein Vater schwach: »Man kann nicht wählen. Ich habe euch alle drei geliebt.«
    In dieser Nacht lag mein Vater in einem Krankenhausbett, angeschlossen an Monitore, die piepsten und summten. Zeit, um um die Füße meines Vaters und seine Wirbelsäule entlangzukreisen. Zeit, ihn zu beschwichtigen und zu führen. Aber wohin?
    Die Uhr über seinem Bett hakte die Minuten ab, und ich dachte an das Spiel, das Lindsey und ich im Garten gespielt hatten: »Er liebt mich/er liebt mich nicht«, die Blütenblätter von Gänseblümchen zupfend. Ich hörte, wie die Uhr mir im selben Rhythmus meine beiden größten Wünsche entgegenwarf: »Stirb für mich/stirb nicht für mich, stirb für mich/stirb nicht für mich.« Ich konnte nicht anders, so schien es, als an seinem schwächer werdenden Herzen zu reißen. Falls er starb, hätte ich ihn für immer. War das ein so falscher Wunsch?
    Zu Hause lag Buckley im Dunkeln in seinem Bett und zog sich das Laken bis unters Kinn. Er hatte nicht weiter mitgedurft als in die Notaufnahme, wohin Lindsey sie im Gefolge des gellenden Rettungswagens, in dem unser Vater lag, gefahren hatte. Mein Bruder hatte gespürt, wie sich bei Lindseys Schweigen eine riesige Last der Schuld auf ihn herabsenkte. Bei ihren beiden wiederholten Fragen: »Worüber habt ihr geredet? Warum war er so aufgeregt?«
    Die größte Befürchtung meines kleinen Bruders war die, dass ihn der einzige Mensch, der ihm so viel bedeutete, verlassen würde. Er liebte Lindsey und Grandma Lynn und Samuel und Hal, aber mein Vater veranlasste ihn, leise zu treten, sodass der Sohn den Vater jeden Morgen und jeden Abend behutsam leitete, als ob er ihn ohne diese Umsicht verlieren würde.
    Wir standen - das tote Kind und das lebende - zu beiden Seiten meines Vaters und wünschten uns dasselbe. Ihn auf ewig für uns zu haben. Uns beide zufrieden zu stellen war eine Unmöglichkeit.
    Mein Vater hatte Buckleys Zubettgehen nur zweimal in seinem Leben verpasst. Einmal, als er auf der Suche nach Mr. Harvey abends ins Maisfeld gegangen war, und jetzt, da er im Krankenhaus lag und sie ihn für den Fall eines zweiten Herzinfarkts überwachten.
    Buckley wusste, dass er eigentlich zu alt war, als dass es ihm hätte etwas ausmachen dürfen, doch ich hatte Mitgefühl mit ihm. Beim Gutenachtkuss war mein Vater nicht zu übertreffen. Wenn er am Fußende des Bettes stand, nachdem er die Jalousien geschlossen und mit der Hand darüber gestrichen hatte, um sich zu vergewissern, dass sie völlig glatt herunterhingen - kein Stäbchen durfte aus der Reihe tanzen und Sonnenlicht auf seinen Sohn fallen

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