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In meinem Himmel

Titel: In meinem Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Sebold
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hat.«
    »Das ist ja wunderbar«, sagte meine Mutter.
    »Abigail?«
    »Ja.« Sie konnte das Zögern ihrer Mutter hören, das eine Seltenheit war.
    »Jack fragt auch nach Susie.«
    Sie zündete sich eine Zigarette an, sobald sie das Terminal von O'Hare hinter sich hatte; eine Schulklasse mit kleinen Reisetaschen und Instrumentenkoffern, die mit einem leuchtend gelben Namensschild beklebt waren, strömte an ihr vorbei. HEIMAT DER PATRIOTEN stand darauf.
    Es war feucht und schwül in Chicago, und die Auspuffgase der in zweiter Reihe wartenden Autos verpesteten die drückende Luft.
    Sie brannte die Zigarette in Rekordzeit herunter und zündete sich eine zweite an; einen Arm hielt sie fest an die Brust gepresst, den anderen streckte sie bei jedem Ausatmen von sich. Sie trug ihre Arbeitskluft: ein Paar verblichener, aber sauberer Jeans und ein blassorangerotes T-Shirt, auf dessen Tasche WEINKELLEREI KRUSOE gestickt war. Ihre Haut war dunkler als früher, was ihre hellblauen Augen im Gegensatz dazu noch blauer wirken ließ, und sie hatte sich angewöhnt, ihre Haare im Nacken zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammenzubinden. Neben ihren Ohren und an den Schläfen konnte ich kleine weiße und graue Strähnen erkennen.
    Sie war zwischen Vergangenheit und Zukunft hin- und hergerissen und fragte sich, wie das möglich war. Die Zeit, die sie für sich allein gehabt hatte, war gravitationsähnlich dadurch begrenzt gewesen, wann ihre Bindungen sie zurückholen würden. Und jetzt hatten sie sie zurückgeholt - mit doppelter Kraft. Eine Ehe. Ein Herzinfarkt.
    Vor dem Terminal stehend, langte sie in die Gesäßtasche ihrer Jeans, wo die Männerbrieftasche steckte, die sie angefangen hatte bei sich zu tragen, als sie den Job bei Krusoe antrat, weil es einfacher war, als sich um eine unter der Theke verstaute Handtasche sorgen zu müssen. Sie schnippte die Zigarette auf die Taxispur und drehte sich um, um sich auf den Rand eines Pflanzenkastens aus Beton zu setzen, in dem Unkraut wuchs und ein einsamer, von Abgasen erstickter junger Baum.
    In ihrer Brieftasche waren Fotos, Fotos, die sie sich jeden Tag anschaute. Eins davon bewahrte sie jedoch umgedreht in einem Lederfach auf, das für eine Kreditkarte gedacht war. Es war dasselbe, das im Polizeirevier in der Beweismittelkiste lag, dasselbe, das Ray in das Buch seiner Mutter mit indischen Gedichten gelegt hatte. Mein Klassenfoto, das es in die Zeitungen geschafft hatte und auf Polizeiflugblättern und in Briefkästen gelandet war.
    Nach acht Jahren war es sogar für meine Mutter wie das allgegenwärtige Foto einer Berühmtheit. Sie hatte es so oft gesehen, dass ich fein säuberlich darin begraben worden war. Meine Wangen niemals röter, meine Augen niemals blauer, als sie es auf dieser Fotografie waren.
    Sie nahm sie heraus und hielt sie mit der Vorderseite nach oben und leicht gewölbt in der Hand. Sie hatte immer meine Zähne vermisst - ihre kleinen, abgerundeten Auszackungen hatten sie fasziniert, als sie zusah, wie ich größer wurde. Ich hatte meiner Mutter für das Foto in jenem Jahr ein breites Lächeln versprochen, war aber angesichts des Fotografen so befangen, dass ich kaum ein verkniffenes Grinsen zustande brachte.
    Sie hörte die Ankündigung des Anschlussfluges über den Lautsprecher. Sie stand auf. Als sie sich umdrehte, sah sie den winzigen, sich abquälenden Baum. Sie lehnte mein Klassenfoto an seinen Stamm und eilte durch die automatische Tür.
    Auf dem Flug nach Philadelphia saß sie allein in der Mitte einer Reihe mit drei Plätzen. Sie musste zwangsläufig daran denken, dass die beiden Plätze neben ihr, wenn sie eine Mutter wäre, besetzt wären. Einer mit Lindsey. Einer mit Buckley. Aber obwohl sie, genau genommen, eine Mutter war, hatte sie irgendwann auch aufgehört, eine zu sein. Das Recht und Privileg konnte sie nicht beanspruchen, nachdem sie über ein halbes Jahrzehnt des Lebens ihrer Kinder versäumt hatte. Sie wusste inzwischen, dass das Muttersein eine Berufung ist, etwas, von dem viele junge Mädchen träumen. Aber meine Mutter hatte diesen Traum nie gehabt, und sie war auf die schrecklichste und unvorstellbarste Weise dafür bestraft worden, dass sie mich nie gewollt hatte.
    Ich beobachtete sie im Flugzeug, und ich entsandte einen Wunsch in die Wolken, sie möge erlöst werden. Ihr Körper wurde schwer vor Angst vor dem, was kommen würde, doch in dieser Schwere lag auch eine gewisse Wohltat. Die Stewardess reichte ihr ein kleines, blaues Kissen, und

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