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In meinem Himmel

Titel: In meinem Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Sebold
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lassen, ehe er kam, um ihn zu wecken -, bekam mein Bruder oft eine Gänsehaut auf Armen und Beinen. Die Vorfreude war so süß.
    »Bereit, Buck?«, fragte mein Vater dann, und manchmal sagte Buckley: »Roger«, oder manchmal sagte er: »Abflug«, aber wenn er besonders ängstlich und zappelig auf Frieden wartete, sagte er einfach: »Ja!« Und mein Vater ergriff das dünne Baumwolllaken, das obenauf lag, vorsichtig an zwei Ecken, die er zwischen Daumen und Zeigefinger hielt. Dann hob er es mit einem Ruck hoch, sodass das hellblaue Laken (falls es Buckleys war) oder das lavendelfarbige (wenn sie meins benutzten) sich über ihm blähte wie ein Fallschirm und sanft und wunderbar langsam herabschwebte und an seiner entblößten Haut entlangstreifte - seinen Knien, seinen Unterarmen, seinen Wangen und seinem Kinn. Luft und Zudecke waren irgendwie zur selben Zeit am selben Ort - es fühlte sich an wie Befreiung und Schutz schlechthin. Es war herrlich, machte ihn verletzlich und ließ ihn zittern, und er konnte nur hoffen, dass mein Vater, wenn er ihn darum bat, ihm den Gefallen tun und es wiederholen würde. Luft und Zudecke, Luft und Zudecke- so wurde die unausgesprochene Verbindung zwischen ihnen aufrechterhalten: kleiner Junge, verwundeter Mann.
    Heute Nacht lag sein Kopf auf dem Kissen, während sein Körper zur Embryoposition eingerollt war. Er hatte nicht daran gedacht, die Jalousien selbst zu schließen, und die Lichter von den benachbarten Häusern tüpfelten den Hügel. Er starrte durchs Zimmer auf die Lamellentüren seines Wandschranks, aus dem sich früher in seiner Fantasie böse Hexen gestohlen hatten, um sich zu den Drachen unter seinem Bett zu gesellen. Derartiges fürchtete er nicht mehr.
    »Bitte lass Daddy nicht sterben, Susie«, flüsterte er. »Ich brauche ihn.«
    Nachdem ich meinen Bruder verlassen hatte, trat ich aus dem Pavillon unter die Laternen, die herabhingen wie Beeren, und beim Näherkommen sah ich die sich verzweigenden Backsteinpfade.
    Ich ging, bis sich die Ziegel in Steinplatten verwandelten und dann in kleine, spitze Kiesel und dann in nichts außer aufgewühlter Erde, die sich kilometerweit um mich erstreckte. Ich stand da. Ich war lange genug im Himmel, um zu wissen, dass sich etwas offenbaren würde. Und während das Licht schwächer zu werden begann und sich der Himmel zu einem dunklen, süßen Blau verfärbte wie am Abend meines Todes, sah ich jemanden in mein Blickfeld kommen, so weit weg, dass ich zuerst nicht erkannte, ob es ein Mann oder eine Frau, ein Kind oder ein Erwachsener war. Doch als Mondlicht auf die Gestalt fiel, machte ich einen Mann aus, und ich rannte, verängstigt jetzt, flach atmend, so weit auf ihn zu, dass ich ihn sehen konnte. War es mein Vater? War es das, was ich mir die ganze Zeit so verzweifelt gewünscht hatte?
    »Susie«, sagte der Mann, als ich mich näherte und ein Stück vor ihm stehen blieb. Er hob mir die Arme entgegen.
    »Erinnerst du dich?«, fragte er.
    Ich merkte, dass ich wieder klein war, sechs Jahre alt, und mich in einem Wohnzimmer in Illinois befand. Ich stellte, wie ich es damals getan hatte, meine Füße auf seine Füße.
    »Granddaddy«, sagte ich.
    Und weil wir ganz allein und beide im Himmel waren, war ich leicht genug, um mich so zu bewegen, wie ich mich bewegt hatte, als ich sechs war und er sechsundfünfzig und mein Vater uns zu einem Besuch bei ihm mitgenommen hatte. Wir tanzten ganz langsam zu einem Stück, das meinen Großvater auf der Erde immer zum Weinen gebracht hatte.
    »Entsinnst du dich?«, fragte er.
    »Barber!«
    »Adagio für Streicher«, sagte er.
    Aber während wir tanzten und herumwirbelten - nichts von der ruckartigen Unbeholfenheit auf Erden -, erinnerte ich mich, wie ich gesehen hatte, dass er weinte, und ihn gefragt hatte, warum.
    »Manchmal weint man, Susie, auch wenn jemand, den man liebt, schon lange tot ist.« Er hatte mich an sich gedrückt, nur kurz, und dann war ich nach draußen gerannt, um in dem mir riesengroß erscheinenden Garten meines Großvaters wieder mit Lindsey zu spielen.
    Wir sprachen nicht mehr in dieser Nacht, doch wir tanzten stundenlang in jenem zeitlosen blauen Licht. Ich wusste, während wir tanzten, dass auf Erden und im Himmel etwas stattfand. Eine Verschiebung. Die Art plötzlicher Beschleunigung, über die wir das eine Jahr im Naturkundeunterricht gelesen hatten. Seismisch, unmöglich, ein Bersten und Reißen von Raum und Zeit. Ich presste mich an die Brust meines Großvaters und roch

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