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In meinem Himmel

Titel: In meinem Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Sebold
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diejenige, die zuerst weinte, deren Tränen auf die Wangen meines Vaters tropften, bis auch er weinte.

21
    Nachdem ich meine Eltern im Krankenhaus zurückgelassen hatte, machte ich mich zu Ray Singh auf. Wir waren zusammen vierzehn gewesen, er und ich. Jetzt sah ich seinen Kopf auf dem Kissen, dunkles Haar auf gelbem Bezug, dunkle Haut auf gelben Laken. Ich war immer in ihn verliebt gewesen. Ich zählte die Wimpern jedes geschlossenen Auges. Er war mein Beinahe gewesen, mein Was-hätte-sein-können, und ich wollte ihn genauso wenig verlassen wie meine Familie.
    Auf dem kippelnden Gerüst hinter der Bühne, mit Ruth unter uns, war Ray Singh mir so nahe gekommen, dass sein Atem meinen streifte. Ich hatte die Mischung aus Nelken und Zimt riechen können, die er, wie ich mir ausmalte, jeden Morgen auf seine Getreideflocken streute, und außerdem etwas Dunkles, den dunklen Geruch des menschlichen Körpers, der mich erreichte, in dessen tiefstem Innern Organe von einer Chemie gesteuert wurden, die anders war als die meine.
    Von dem Zeitpunkt an, als ich wusste, dass es passieren würde, bis zu dem Zeitpunkt, als es geschah, sorgte ich dafür, dass ich innerhalb oder außerhalb der Schule nicht allein mit Ray Singh war. Ich hatte Angst vor dem, was ich mir am meisten wünschte - einen Kuss von ihm. Dass er nicht gut genug wäre, um es mit den Geschichten aufzunehmen, die sie alle erzählten oder die ich in
Seventeen
und
Glamour
und
Vogue
las. Ich befürchtete, ich könnte nicht gut genug sein - dass mein erster Kuss Ablehnung und keine Liebe hervorrufen würde. Trotzdem sammelte ich Kussgeschichten.
    »Bei deinem ersten Kuss, da klopft das Schicksal an«, sagte Grandma Lynn eines Tages am Telefon. Ich hielt den Hörer, während mein Vater meine Mutter holen ging. »Sternhagelvoll«, hörte ich ihn in der Küche sagen.
    »Wenn ich es noch mal tun müsste, hätte ich etwas Umwerfendes aufgetragen - Fire and Ice zum Beispiel, aber den Lippenstift hat Revlon damals noch nicht hergestellt. Ich hätte dem Mann meinen Stempel aufgedrückt.«
    »Mutter?«, sagte meine Mutter in den Schlafzimmeranschluss.
    »Wir reden übers Küssen, Abigail.«
    »Wie viel hast du getrunken?«
    »Weißt du, Susie«, sagte Grandma Lynn, »wenn du wie eine Limone küsst, dann kriegst du Limonade.«
    »Wie war es?«
    »Ach, die Kussgeschichte«, sagte meine Mutter. »Die überlasse ich euch.« Ich hatte sie mir von ihr und meinem Vater immer wieder erzählen lassen, um ihre unterschiedlichen Reaktionen in Erfahrung zu bringen. Was bei mir haften blieb, war ein Bild von meinen Eltern hinter einer Wolke aus Zigarettenrauch - und ihre Lippen berührten sich in der Wolke nur zaghaft.
    Einen Moment später flüsterte Grandma Lynn: »Bist du noch dran, Susie?«
    »Ja, Grandma.«
    Sie schwieg ein Weilchen. »Ich war in deinem Alter, und mein erster Kuss stammte von einem erwachsenen Mann. Vom Vater einer Freundin.«
    »Grandma!«, sagte ich, aufrichtig schockiert.
    »Du verrätst mich doch nicht, oder?«
    »Nein.«
    »Es war wundervoll«, sagte Grandma Lynn. »Er konnte wirklich küssen. Die Jungs, die mich küssen wollten, ertrug ich überhaupt nicht. Ich legte meine Hand flach auf ihre Brust und schob sie weg. Mr. McGahern wusste seine Lippen zu benutzen.«
    »Was ist denn passiert?«
    »Seligkeit«, sagte sie. »Ich wusste, dass es nicht richtig war, aber es war wundervoll - zumindest für mich. Ich habe ihn nie gefragt, was er empfand, aber ich habe ihn danach ja auch nie wieder allein gesehen.«
    »Wolltest du es denn noch mal tun?«
    »Ja, ich war immer auf der Suche nach diesem ersten Kuss.«
    »Was war mit Granddaddy?«
    »Kein großer Küsser«, sagte sie. Ich konnte das Klirren von Eiswürfeln am anderen Ende der Leitung hören. »Ich habe Mr. McGahern nie vergessen, obgleich es nur einen Augenblick dauerte. Gibt es einen Jungen, der dich küssen möchte?«
    Weder mein Vater noch meine Mutter hatten mich das gefragt. Heute weiß ich, dass sie es bereits wussten, einander anlächelten, wenn sie sich ihre Erkenntnisse mitteilten.
    Ich schluckte angestrengt. »Ja.«
    »Wie heißt er?«
    »Ray Singh.«
    »Magst du ihn?«
    »Ja.«
    »Wo liegt dann das Problem?«
    »Ich habe Angst, dass ich es nicht gut mache.«
    »Susie?«
    »Ja?«
    »Hab einfach Vergnügen daran, Kind.«
    Aber als ich an jenem Nachmittag an meinem Spind stand und Ray meinen Namen sagen hörte - diesmal hinter mir und nicht über mir -, fühlte es sich gar nicht nach Vergnügen an. Es

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