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In meinem Himmel

Titel: In meinem Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Sebold
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Susies Anhänger haben wir in der Nähe eines Grabs außerhalb von Hartford gefunden.«
    Mein Vater und meine Mutter sahen zu, als Len an dem klemmenden Reißverschluss seines Rucksacks herumfummelte. Meine Mutter strich meinem Vater das Haar zurück und versuchte, seinen Blick aufzufangen. Doch mein Vater konzentrierte sich ganz auf die Aussicht, die Len präsentierte - dass mein Mordfall wieder aufgenommen würde. Und meine Mutter, die eben angefangen hatte, festeren Boden unter sich zu spüren, musste die Tatsache verbergen, dass sie nie gewollte hatte, dass alles von neuem begann. Der Name George Harvey ließ sie verstummen. Sie hatte nie gewusst, was sie über ihn sagen sollte. Für meine Mutter bedeutete seine Ergreifung und Bestrafung eher, dass sie mit dem Feind leben, als dass sie lernen musste, ohne mich in der Welt zu sein.
    Len holte eine große Plastiktüte hervor. In der untersten Ecke konnten meine Eltern das Glitzern von Gold sehen. Len reichte sie meiner Mutter, und sie hielt sie vor sich, ein Stück weg von ihrem Körper.
    »Brauchen Sie den nicht, Len?«, fragte mein Vater.
    »Wir haben sämtliche Tests damit durchgeführt«, sagte Len. »Wir haben dokumentiert, wo er gefunden wurde, und die erforderlichen Fotos gemacht. Vielleicht kommt der Zeitpunkt, wo ich ihn wiederhaben will, aber bis dahin können Sie ihn behalten.«
    »Mach auf, Abbie«, sagte mein Vater.
    Ich beobachtete, wie meine Mutter den Beutel aufhielt und sich über das Bett beugte. »Der ist für dich, Jack«, sagte sie. »Er war ein Geschenk von dir.«
    Als mein Vater hineinlangte, zitterte seine Hand, und es dauerte eine Sekunde, bis er die kleinen, scharfen Ränder des Anhängers am Fleisch seiner Finger fühlte. Die Art und Weise, wie er ihn aus der Tüte zog, erinnerte mich an das Spiel »Operation« mit Lindsey, als wir klein waren. Wenn er die Ränder der Plastiktüte berührte - entsprechend dem Metallrand des Spielbretts -, würde eine Alarmglocke ertönen, und er würde ein Bußgeld zahlen müssen.
    »Wie können Sie so sicher sein, dass er die anderen Mädchen ermordet hat?«, fragte meine Mutter. Sie starrte auf den kleinen Funken Gold in der Handfläche meines Vaters.
    »Nichts ist jemals sicher«, sagte Len.
    Und das Echo hallte ihr erneut in den Ohren wider. Len hatte ein feststehendes Sortiment an Phrasen. Genau diese Phrase hatte mein Vater sich ausgeliehen, um seine Familie zu beschwichtigen. Es war eine grausame Phrase, die die Hoffnung ausbeutete.
    »Ich glaube, ich möchte, dass Sie jetzt gehen«, sagte sie.
    »Abigail?«, fragte mein Vater zweifelnd.
    »Ich will nichts mehr hören.«
    »Ich bin sehr froh, dass ich den Anhänger habe, Len«, sagte mein Vater.
    Len lüftete einen imaginären Hut, ehe er sich zum Gehen wandte. Er hatte mit meiner Mutter, bevor sie wegging, eine bestimmte Art von Sex gehabt, Sex als einen Akt willentlichen Vergessens. Es war die Art Sex, die er immer öfter in den Zimmern über dem Frisörladen hatte.
    Ich machte mich nach Süden zu Ruth und Ray auf, aber stattdessen sah ich Mr. Harvey. Er fuhr einen orangeroten Wagen, der aus so vielen unterschiedlichen Versionen desselben Typs und Modells zusammengestückelt war, dass er aussah wie Frankensteins Monster auf Rädern. Eine Gummikordel hielt die Kühlerhaube, die im Gegenwind auf- und zuklapperte.
    Der Motor weigerte sich, die Höchstgeschwindigkeit auch nur um einen Hauch zu überschreiten, so angestrengt er auch aufs Gaspedal trat. Er hatte neben einem leeren Grab geschlafen, und während er schlief, hatte er von der 5! 5! 5! geträumt und war bei Tagesanbruch aufgewacht, um die Fahrt nach Pennsylvania anzutreten.
    Die Umrisse von Mr. Harvey wirkten seltsam verschwommen. Jahrelang hatte er die Erinnerungen an die Frauen, die er getötet hatte, in Schach gehalten, doch nun kehrten sie eine nach der anderen zurück.
    Beim ersten Mädchen war es Zufall gewesen. Er war wütend geworden und hatte sich nicht bremsen können, so jedenfalls erklärte er es sich selbst. Sie ging danach nicht mehr auf die Highschool, die sie beide besuchten, aber das kam ihm nicht komisch vor. Er hatte inzwischen so oft den Wohnort gewechselt, dass er annahm, sie sei weggezogen. Er hatte sie bedauert, diese lautlose Vergewaltigung einer Schulkameradin, sie aber nicht als etwas gesehen, das einem von ihnen beiden nachhängen würde. Es war, als hätte etwas außerhalb seiner selbst eines Nachmittags in der Kollision ihrer Körper resultiert. Danach hatte sie

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