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In meinem Himmel

Titel: In meinem Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Sebold
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eingeweckt und dann vergessen wurden, schien ihr die Süße bei ihrer Rückkehr noch stärker auskristallisiert. Dort auf dem Regal waren all die Treffen und die Albernheiten ihrer frühen Liebe, der Zopf, der sich aus ihren Träumen zu flechten begann, die stabile Wurzel einer knospenden Familie. Der erste handfeste Beweis für alles. Ich.
    Sie entdeckte eine neue Falte im Gesicht meines Vaters. Ihr gefiel das Silbernwerden seiner Schläfen.
    Kurz nach Mitternacht schlief sie ein, nachdem sie angestrengt versucht hatte, die Augen offen zu halten. Sich an allem gleichzeitig festzuhalten, während sie in dieses Gesicht schaute, damit sie sich, wenn er aufwachte, verabschieden konnte.
    Als ihre Augen geschlossen waren und sie geräuschlos nebeneinander schliefen, flüsterte ich ihnen zu:
    Steine und Knochen;
    Schnee und Frost;
    Samen und Bohnen und Apfelmost.
    Wege und Zweige, ihr werdet geküsst,
    Wir wissen alle, wen Susie vermisst...
    Gegen zwei Uhr fing es an zu regnen, und es regnete auf das Krankenhaus hinab und auf mein altes Zuhause und in meinem Himmel. Auf das Blechdach des Schuppens, wo Mr. Harvey schlief, regnete es auch. Während der Regen über seinem Kopf mit winzigen Hämmern klopfte, träumte er. Er träumte nicht von dem Mädchen, dessen Überreste entfernt worden waren und jetzt analysiert wurden, sondern von Lindsey Salmon, von der 5! 5! 5!, die in die Holunderhecke krachte. Diesen Traum hatte er immer, wenn er sich bedroht fühlte. Das Aufblitzen ihres Fußballtrikots war es gewesen, mit dem sein Leben außer Kontrolle zu geraten begann.
    Es war beinahe vier, als ich sah, wie mein Vater die Augen aufschlug, und sah, dass er den warmen Atem meiner Mutter auf seiner Wange spürte, noch bevor er wusste, dass sie schlief. Wir wünschten uns beide, dass er sie hätte umarmen können, aber er war zu schwach. Es gab eine andere Möglichkeit, und die wählte er. Er würde ihr erzählen, was er nach meinem Tod empfunden hatte - die Dinge, die ihm so häufig in den Sinn kamen, die jedoch außer mir niemand kannte.
    Aber er wollte sie nicht aufwecken. Das Krankenhaus war still bis auf das Geräusch des Regens. Er hatte das Gefühl, dass der Regen ihm folgte, Dunkelheit und Nässe - er dachte an Lindsey und Samuel an der Haustür, durchweicht und lächelnd, nachdem sie die ganze Strecke gerannt waren, um ihn zu beruhigen. Oft merkte er, wie er sich mit wiederholten Kommandos zur Konzentration zwang. Lindsey. Lindsey. Lindsey. Buckley. Buckley. Buckley.
    So wie der Regen vor den Fenstern aussah, durch die Laternen auf dem Krankenhausparkplatz in runden Flecken hervorgehoben, erinnerte er ihn an die Filme, die er als Junge gesehen hatte - Hollywood-Regen. Er schloss die Augen, während der Atem meiner Mutter beruhigend seine Wange streifte, und lauschte dem leichten Prasseln auf den schmalen, metallenen Fensterbänken, und dann hörte er das Geräusch von Vögeln - kleinen, zwitschernden Vögeln, aber er konnte sie nicht sehen. Und die Vorstellung, dass direkt vor seinem Fenster ein Nest sein könnte, wo Vogelbabys im Regen aufgewacht waren und merkten, dass ihre Mutter weg war, erweckte in ihm den Wunsch, die kleinen Tiere zu retten. Er spürte die schlaffen Finger meiner Mutter, die ihren Griff um seine Hand im Schlaf gelockert hatte. Sie war hier, und diesmal würde er sie trotz allem sein lassen, wer sie war.
    In diesem Augenblick schlüpfte ich zu meiner Mutter und meinem Vater ins Zimmer. Ich war irgendwie präsent, als Person, auf eine Weise, in der ich es nie zuvor gewesen war. Ich hatte mich immer bei ihnen aufgehalten, doch nie neben ihnen gestanden.
    Ich machte mich klein in der Dunkelheit, ohne zu wissen, ob ich sichtbar war. Ich hatte ihn achteinhalb Jahre lang jeden Tag für einige Stunden verlassen, so wie ich meine Mutter oder Ruth oder Ray, meinen Bruder und meine Schwester und ganz sicher Mr. Harvey verlassen hatte, er dagegen, das erkannte ich nun, hatte mich nie verlassen. Seine innige Zuneigung zu mir hatte mir immer wieder vermittelt, dass ich geliebt worden war. Im warmen Licht der Liebe meines Vaters war ich Susie Salmon geblieben - ein Mädchen, das das ganze Leben vor sich hatte.
    »Ich dachte, wenn ich sehr still wäre, würde ich dich hören«, flüsterte er. »Wenn ich still genug wäre, kämst du vielleicht zurück.«
    »Jack?«, sagte meine Mutter im Aufwachen. »Ich muss eingeschlafen sein.«
    »Es ist wunderbar, dich wiederzuhaben«, sagte er.
    Und meine Mutter schaute ihn an.

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