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In meinem Himmel

Titel: In meinem Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Sebold
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fühlte sich auch nicht nach Nicht-Vergnügen an. Die simplen Schwarz-Weiß-Begriffe, die ich vorher gekannt hatte, trafen hier nicht zu. Ich fühlte mich, wenn ich ein Wort wählen sollte, aufgewühlt. Glücklich + Erschrocken = Aufgewühlt.
    »Ray«, sagte ich, doch bevor der Name meinem Mund entschlüpft war, beugte Ray sich zu mir vor und erfasste meinen offenen Mund mit seinem. Es geschah so unvermutet, obgleich ich Wochen darauf gewartet hatte, dass ich mehr wollte. Ich wünschte mir so sehr, Ray Singh noch einmal zu küssen.
    Am nächsten Morgen schnitt Mr. Connors einen Artikel aus der Zeitung aus und hob ihn für Ruth auf. Es handelte sich um eine detaillierte Zeichnung des Flanaganschen Schlundlochs und darum, wie man es auffüllen wollte. Während Ruth sich ankleidete, schrieb er dazu eine Notiz für sie. »Was für ein Blödsinn«, stand da. »Irgendwann fällt doch wieder ein armer Trottel mit seinem Auto rein.«
    »Dad meint, das sei sein Ende«, sagte Ruth zu Ray, wobei sie mit dem Zeitungsausschnitt wedelte, während sie am Ende ihrer Einfahrt in Rays eisblauen Chevy stieg. »Angeblich wird unser Haus bei dem Parzellierungsvorhaben verschluckt. Hör dir das an. In diesem Artikel haben sie vier Blöcke, wie die Würfel, die man als Anfänger im Kunstunterricht zeichnet, und das soll zeigen, wie sie das Schlundloch zuschütten wollen.«
    »Schön, dich zu sehen, Ruth«, sagte Ray, der im Rückwärtsgang aus der Einfahrt fuhr und dabei einen beredten Blick auf Ruths nicht befestigten Sicherheitsgurt warf.
    »Entschuldige«, sagte Ruth. »Hallo.«
    »Was steht in dem Artikel?«, fragte Ray.
    »Schöner Tag heute, herrliches Wetter.«
    »Ist ja schon gut. Erzähl mir von dem Artikel.«
    Jedes Mal, wenn er Ruth nach ein paar Monaten wieder sah, wurde er an ihre Ungeduld und ihre Neugier erinnert- zwei Wesenszüge, die ihre Freundschaft begründet und erhalten hatten.
    »Die ersten drei Abbildungen sind dieselben, nur mit unterschiedlichen Pfeilen, die auf unterschiedliche Stellen deuten, nämlich ›Mutterboden‹, ›geborstener Kalkstein‹ und ›sich zersetzendes Gestein‹. Über der letzten ist eine dicke Überschrift, die ›Wie man es kittet‹ heißt, und darunter steht: ›Beton füllt den Schlund, und Mörtel füllt die Risse.‹«
    »Schlund?«, fragte Ray.
    »Ich weiß«, sagte Ruth. »Dann ist da auf der anderen Seite noch ein Pfeil, als ob das so ein riesiges Projekt wäre, dass sie eine Sekunde innehalten müssten, damit die Leser das Konzept kapieren, und da steht: ›Dann wird das Loch mit Erde gefüllt.‹«
    Ray fing an zu lachen.
    »Wie eine medizinische Prozedur«, sagte Ruth. »Der Planet muss mit kniffligster Chirurgie zusammengeflickt werden.«
    »Ich glaube, Löcher in der Erde beschwören ziemliche Urängste herauf.«
    »Klar«, sagte Ruth. »Sie haben Schlünde, Herrgott noch mal! Hey, gucken wir uns das mal an.«
    Ungefähr anderthalb Kilometer weiter die Straße entlang waren Schilder, die ein neues Bauvorhaben ankündigten. Ray bog links ab und fuhr in die ringförmig angelegten, frisch gepflasterten Straßen, wo die Bäume abgeholzt worden waren und in Abständen rot-gelbe Wimpel an taillenhoch gezogenen Drähten flatterten.
    Als sie sich gerade in dem Glauben gewiegt hatten, sie seien allein bei der Erforschung der Wege, die für ein bisher unbewohntes Gelände geplant waren, sahen sie ein Stück vor sich Joe Ellis gehen.
    Weder Ruth noch Ray winkten, und auch Joe nahm sie mit keiner Regung zur Kenntnis.
    »Meine Mom sagt, er wohnt immer noch zu Hause und findet keinen Job.«
    »Was macht er den ganzen Tag?«
    »Gruselig aussehen, nehme ich an.«
    »Er ist nie drüber weggekommen«, sagte Ray, und Ruth starrte hinaus auf die Reihen leerer Grundstücke, bis Ray zur Hauptstraße zurückfuhr und sie wieder die Bahngleise in Richtung Route 30 überquerten, die sie zum Schlundloch bringen würde.
    Ruth hielt den Arm aus dem Fenster, um die feuchte Morgenluft nach dem Regen zu spüren. Obgleich Ray bezichtigt worden war, mit meinem Verschwinden zu tun zu haben, hatte er verstanden, warum, gewusst, dass die Polizei nur ihre Arbeit tat. Joe Ellis dagegen hatte sich nie von der Anschuldigung erholt, die Katzen und Hunde getötet zu haben, die Mr. Harvey umgebracht hatte. Er wanderte umher, blieb auf Abstand zu seinen Nachbarn und wünschte sich so sehr, Trost in der Liebe von Katzen und Hunden zu finden. Für mich war das Traurigste, dass diese Tiere die Zerrissenheit - die

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