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In meinem Himmel

Titel: In meinem Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Sebold
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Alles löste sich. »Wie schaffst du das?«, fragte sie.
    »Es gibt keine Wahl, Abbie«, sagte er. »Was sollte ich sonst tun?«
    »Weggehen, neu anfangen«, sagte sie.
    »Hat es funktioniert?«
    Sie schwiegen. Ich streckte meine Hand aus und verflüchtigte mich.
    »Warum legst du dich nicht zu mir?«, sagte mein Vater. »Wir haben noch ein bisschen Zeit, ehe die Vollstreckungsbeamten kommen und dich rausschmeißen.«
    Sie rührte sich nicht.
    »Sie waren nett zu mir«, sagte sie. »Schwester Eliot hat mir geholfen, die Blumen ins Wasser zu stellen, als du schliefst.«
    Er schaute sich um und machte ihre Umrisse aus. »Narzissen«, sagte er.
    »Das ist Susies Blume.«
    Mein Vater lächelte wunderschön. »Siehst du«, sagte er. »So geht es. Du lebst damit, indem du ihr eine Blume schenkst.«
    »Das ist so traurig«, sagte meine Mutter.
    »Ja«, sagte er, »das stimmt.«
    Meine Mutter schob sich ein bisschen unsicher mit einer Hüfte auf den Rand des Krankenhausbetts, aber sie schafften es. Sie schafften es, sich gemeinsam nebeneinander auszustrecken, sodass sie sich in die Augen schauen konnten.
    »Wie war es, Buckley und Lindsey wieder zu sehen?«
    »Unglaublich schwer«, sagte sie.
    Sie schwiegen einen Moment lang, und er drückte ihre Hand.
    »Du siehst so anders aus«, sagte er.
    »Älter, meinst du.«
    Ich beobachtete, wie er nach einer Haarsträhne meiner Mutter griff und sie um ihr Ohr schlang. »Ich habe mich wieder in dich verliebt, als du weg warst«, sagte er.
    Ich merkte, wie sehr ich mir wünschte, an Stelle meiner Mutter zu sein. Bei ihm ging es nicht um eine Rückschau und eine Liebe zu etwas, das sich nie verändern würde. Es ging darum, dass er meine Mutter für alles liebte - für ihre Zerrissenheit und ihre Flucht, dafür, dass sie genau in diesem Augenblick hier war, ehe die Sonne aufging und das Krankenhauspersonal hereinkam. Es ging darum, dass er dieses Haar mit seiner Fingerspitze streifte und sich bewusst und dennoch furchtlos in die Tiefen ihrer Ozeanaugen stürzte.
    Meine Mutter konnte sich nicht dazu überwinden, »Ich liebe dich« zu sagen.
    »Bleibst du?«, fragte er.
    »Eine Weile.«
    Das war wenigstens etwas.
    »Gut«, erwiderte er. »Was hast du denn gesagt, wenn die Leute in Kalifornien dich nach deiner Familie gefragt haben?«
    »Laut habe ich gesagt, ich hätte zwei Kinder. Wortlos habe ich drei gesagt. Ich hatte immer das Gefühl, ich müsste mich bei ihr dafür entschuldigen.«
    »Hast du einen Ehemann erwähnt?«
    Und sie schaute ihn an. »Nein.«
    »Mann«, sagte er.
    »Ich bin nicht zurückgekommen, um zu heucheln, Jack«, sagte sie.
    »Warum bist du zurückgekommen?«
    »Meine Mutter hat mich angerufen. Sie sagte, es sei ein Herzinfarkt, und ich musste an deinen Vater denken.«
    »Du hast gedacht, dass ich vielleicht sterben könnte?«
    »Ja.«
    »Du hast geschlafen«, sagte er. »Du hast sie nicht gesehen.«
    »Wen?«
    »Jemand kam ins Zimmer und ging wieder. Ich glaube, es war Susie.«
    »Jack?«, fragte meine Mutter, aber ihre Bestürzung war nur halbherzig.
    »Erzähl mir nicht, dass du sie nicht siehst.«
    Sie ließ los.
    »Ich sehe sie überall«, sagte sie, vor Erleichterung aufatmend. »Sogar in Kalifornien war sie überall. In Bussen oder auf den Straßen vor Schulen, wenn ich vorbeifuhr. Manchmal sah ich ihr Haar, aber es passte nicht zu dem Gesicht, oder ich sah ihren Körper oder die Art, wie sie sich bewegte. Ich sah ältere Schwestern und ihre kleinen Brüder oder zwei Mädchen, die wie Schwestern aussahen, und ich stellte mir vor, was Lindsey in ihrem Leben alles nicht haben würde - die Beziehung zu einer Schwester, die für sie und Buckley nicht mehr da war, und dann traf es mich wie ein Schlag, weil ich auch gegangen war. Das erstreckte sich dann auch auf dich und sogar auf meine Mutter.«
    »Sie ist großartig«, sagte er, »ein Felsen in der Brandung. Ein Felsen wie ein Schwamm, aber ein Felsen.«
    »Das glaube ich.«
    »Wenn ich dir also erzähle, dass Susie vor zehn Minuten hier im Zimmer war, was würdest du sagen?«
    »Ich würde sagen, du bist verrückt und hast wahrscheinlich Recht.«
    Mein Vater langte nach oben und zog den Umriss der Nase meiner Mutter mit den Fingern nach und legte sie ihr dann auf ihren Mund. Dabei teilten sich ihre Lippen ganz leicht.
    »Du musst dich runterbeugen«, sagte er. »Ich bin immer noch ein kranker Mann.«
    Und ich sah zu, wie meine Eltern sich küssten. Sie behielten dabei die Augen offen, und meine Mutter war

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