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In meinem Himmel

Titel: In meinem Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Sebold
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hatte, und sah die weiche, pudrige Haut ihres Gesichts - pudrig ohne Schminke - weich ohne Nachhilfe. Ihre Augenbrauen und Augen zusammen waren formvollendet. »Ozeanaugen« nannte mein Vater sie, wenn er eine von ihren Kirschpralinen wollte, die sie als ihre privaten Leckerbissen im Schnapsschrank aufbewahrte. Und jetzt verstand ich den Namen. Ich hatte angenommen, sie hätte ihn, weil ihre Augen blau waren, doch jetzt begriff ich, es lag daran, dass sie unergründlich waren, auf eine Weise, die ich erschreckend fand. Ich hatte das instinktive Gefühl, den noch unfertigen Gedanken, ich sollte, bevor Holiday mich sah und roch, bevor der über dem Gras schwebende Taunebel verdunstete und die Mutter in ihr erwachte wie jeden Morgen, mit meiner neuen Kamera ein Foto von ihr machen.
    Als der Film in einem schweren Spezialumschlag von Kodak zurückkam, sah ich den Unterschied sofort. Es gab nur ein Bild von meiner Mutter, auf dem sie Abigail war. Es war das erste, das ich, von ihr unbemerkt, aufgenommen, das ich eingefangen hatte, ehe das Klicken sie wieder in die Mutter des Geburtstagskindes verwandelte, die Besitzerin des glücklichen Hundes, Ehefrau des liebenden Mannes, Mutter einer weiteren Tochter und eines umsorgten Sohns. Hausfrau. Gärtnerin. Gut gelaunte Nachbarin. Die Augen meiner Mutter waren Ozeane, und in ihnen stand Verlust. Ich dachte, ich hätte mein ganzes Leben, um sie zu ergründen, dabei war dies der einzige Tag, den ich hatte. Einmal habe ich sie auf Erden als Abigail gesehen und mir das dann mühelos entgleiten lassen - meine Faszination wurde in Schach gehalten von dem Wunsch, sie möge meine Mutter und als diese Mutter immer um mich sein.
    Ich befand mich im Pavillon und dachte an das Foto, dachte an meine Mutter, als Lindsey mitten in der Nacht aufstand und über den Flur schlich. Ich beobachtete sie, wie ich einen Einbrecher im Film beobachtet hätte, der durch ein Haus streift. Als sie den Türknauf meines Zimmers drehte, wusste ich, dass er nachgeben würde. Ich wusste, sie würde hineingehen, aber was würde sie dort drinnen tun? Mein privates Territorium war bereits zu einem Niemandsland mitten im Haus geworden. Meine Mutter hatte es nicht angerührt. Mein Bett war seit dem hastigen Aufbruch am Morgen meines Todestages ungemacht. Mein geblümtes Nashorn lag zwischen Laken und Kissen, desgleichen ein Outfit, gegen das ich mich entschieden hatte, ehe ich die gelbe Schlaghose wählte.
    Lindsey ging über den weichen Vorleger und berührte den marineblauen Rock und die rot-blaue Häkelweste, die zu zwei einzelnen, heiß verabscheuten Haufen zusammengeknäult waren. Sie besaß eine Weste in Orange und Grün in demselben Muster. Sie nahm die Weste, strich sie glatt und breitete sie flach auf dem Bett aus. Sie war hässlich und schön zugleich. Das erkannte ich. Sie tätschelte sie.
    Lindsey zeichnete den Umriss des goldenen Tabletts nach, das ich auf meiner Kommode stehen hatte und das mit Anstecknadeln von Wahlkämpfen und aus der Schule gefüllt war. Mein Favorit war ein rosa Anstecker, auf dem »Alles Liebe von Hippy-Dippy« stand, den ich auf dem Schulparkplatz gefunden hatte, aber ich hatte meiner Mutter versprechen müssen, ihn nicht zu tragen. Ich bewahrte eine Menge Anstecknadeln auf dem Tablett auf und hatte noch mehr an eine riesige Filzfahne der Indiana University geheftet, wo mein Vater studiert hatte. Ich dachte, sie würde welche stibitzen - sich eine oder zwei zum Tragen nehmen -, doch das tat sie nicht. Sie hob sie nicht einmal auf. Sie strich nur mit den Fingerspitzen über die Gegenstände auf dem Tablett. Dann sah sie eine winzige weiße Ecke, die darunter hervorragte. Sie zog daran.
    Es war das Foto.
    Sie atmete tief aus und setzte sich auf den Fußboden, den Mund noch offen und in der Hand das Bild. Die Haltestricke der Flagge umflatterten und umpeitschten sie wie bei einem Segeltuchzelt, das sich gelockert hat. Auch sie hatte wie ich bis zum Morgen jener Aufnahme die Mut-ter-Fremde nie gesehen. Sie hatte die Fotos gesehen, die gleich danach aufgenommen worden waren. Von meiner Mutter, müde wirkend, aber lächelnd. Von meiner Mutter und Holiday vor dem Hartriegelstrauch, während die Sonne durch ihren Morgenmantel und das Nachthemd schien. Aber ich hatte mir gewünscht, die Einzige im Haus zu sein, die wusste, dass meine Mutter auch noch jemand anders war - jemand Mysteriöses und uns Unbekanntes.
    Mein erster Durchbruch war ein Zufall. Er fand am 23. Dezember 1973

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