Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

In meinem Himmel

Titel: In meinem Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Sebold
Vom Netzwerk:
statt.
    Buckley schlief. Meine Mutter war mit Lindsey zum Zahnarzt gegangen. Sie hatten in dieser Woche vereinbart, dass sie jeden Tag als Familie einige Zeit auf den Versuch verwenden wollten weiterzumachen. Mein Vater hatte sich die Aufgabe verordnet, das Gästezimmer im Obergeschoss aufzuräumen, das schon seit langem sein Arbeitszimmer war.
    Sein eigener Vater hatte ihm beigebracht, wie man Flaschenschiffe baut. Sie waren etwas, das meine Mutter, meine Schwester und meinen Bruder nicht im mindesten interessierten. Ich liebte sie heiß und innig. Das Arbeitszimmer war voll von ihnen.
    In seinem Beruf addierte er den ganzen Tag Zahlen - erforderliche Sorgfalt für die Versicherungsfirma Chadds Ford -, und abends baute er Schiffe oder las Bücher über den Bürgerkrieg, um sich zu entspannen. Wenn er dann bereit war, das Segel hochzuziehen, rief er mich herein. Inzwischen war das Schiff fest an den Boden der Flasche geklebt. Ich trat ein, und mein Vater bat mich, die Tür zu schließen. Oft schien es, als ob daraufhin unverzüglich die Essensglocke ertönte, als hätte meine Mutter einen sechsten Sinn für Geschehnisse, von denen sie ausgeschlossen war. Doch wenn dieser Sinn sie im Stich ließ, war es meine Aufgabe, die Flasche für ihn zu halten.
    »Halt gut fest«, sagte er dann. »Du bist mein erster Maat.«
    Sacht zog er an dem einen Faden, der noch aus dem Flaschenhals ragte, und voilà, die Segel waren gesetzt, ob Einmaster oder Klipper. Wir hatten unser Schiff. Ich konnte nicht applaudieren, weil ich die Flasche in der Hand hatte, hätte es aber immer gern getan. Dann brannte mein Vater das Ende des Fadens rasch mit einem Bügel ab, den er über einer Kerze erhitzt hatte. Wenn er einen Fehler gemacht hätte, wäre das Schiff ruiniert gewesen oder, schlimmer noch, die winzigen Papiersegel hätten Feuer gefangen, und ich hätte plötzlich unter gigantischem Zischen eine Flasche voller Flammen in den Händen gehalten.
    Irgendwann baute mein Vater ein Gestell aus Balsaholz, das mich ersetzte. Lindsey und Buckley teilten meine Faszination nicht. Nachdem er versucht hatte, genug Begeisterung bei den übrigen dreien zu schüren, gab er auf und zog sich in sein Arbeitszimmer zurück. Für den Rest meiner Familie war ein Flaschenschiff wie das andere.
    Doch als er an jenem Tag aufräumte, redete er mit mir.
    »Susie, mein Schatz, mein kleines Matrosenmädchen«, sagte er, »dir haben immer diese kleineren gefallen.«
    Ich sah zu, wie er die Schiffe auf seinem Schreibtisch aufreihte, nachdem er sie von den Borden geholt hatte, wo sie normalerweise standen. Mit einem alten Hemd meiner Mutter, das in Fetzen gerissen war, fing er an, die Regale abzustauben. Unter seinem Schreibtisch befanden sich leere Flaschen - Reihen um Reihen, die wir für künftige Schiffsbauten gesammelt hatten. Im Schrank standen noch mehr Schiffe - Schiffe, die er zusammen mit seinem Vater gebaut hatte, Schiffe, die er allein konstruiert hatte, und dann diejenigen, die wir gemeinsam gemacht hatten. Manche waren makellos, die Segel allerdings gebräunt; andere waren nach Jahren zusammengesackt oder umgekippt. Dann war da noch das, das in der Woche vor meinem Tod in Flammen aufgegangen war.
    Das zerschmetterte er als Erstes.
    Mein Herz erstarrte. Er drehte sich um und sah all die anderen, all die Jahre, für die sie standen, und die Hände, die sie gehalten hatten. Die seines toten Vaters, seines toten Kindes. Er taufte die Wände und den Holzstuhl mit der Nachricht von meinem Tod, und hinterher stand er im Gäste-/Arbeitszimmer, umgeben von grünem Glas. Sämtliche Flaschen lagen zerbrochen auf dem Fußboden, die Segel und Schiffsrümpfe zwischen ihnen verstreut. Er stand in einem Trümmerhaufen. In diesem Augenblick war es, dass ich mich, ohne zu wissen wie, offenbarte. In jedem Stück Glas, jeder Scherbe, jedem Splitter spiegelte ich mein Gesicht. Mein Vater schaute hinunter und um sich, und sein Blick schweifte durch das Zimmer. Wild. Es dauerte nur eine Sekunde, dann war ich verschwunden. Ein Weilchen war es still, und dann lachte er - ein Heulen, das aus seiner Magengrube aufstieg. Er lachte so laut und tief, dass ich in meinem Himmel erzitterte.
    Er verließ den Raum und ging zwei Türen weiter zu meinem Zimmer. Der Flur war winzig, meine Tür wie alle anderen hohl genug, um mit einer Faust hindurchzuschlagen. Er wollte den Spiegel über meiner Kommode zerschmettern, mit den Fingernägeln die Tapete herunterreißen, doch stattdessen fiel er

Weitere Kostenlose Bücher