In meinem kleinen Land
vom Weltall aus sehen kann, selbst wenn man in Krefeld so gut wie drin ist im glühenden Pott, selbst wenn man schon auf einem normalen Falk-Plan nicht mehr auseinanderhalten kann, wo was beginnt und endet: Krefeld ist irgendwie voll daneben. Im Osten der glühende Pott, im Westen bloß Weiden, Wiesen, Kartoffeläcker und die Ahnung, dass dann irgendwann Holland kommt, was nach kaum fünfundzwanzig Kilometern dann auch der Fall ist.
Krefeld ist auf diese Weise eine Zwischenstadt, gleichsam Tor zur Welt und Tor zum Arsch der Welt, je nachdem, woher man gerade kommt. Früher hatte die Stadt einen gewissen Glanz, das muss man festhalten. Gustav Mahler führte 1902 seine dritte Symphonie in Krefeld ur auf. Herrlich. Ur auf. Die Stadt war reich und sauber. Die Textilindustriellen ließen sich ihre Villen von Bauhausarchitekten entwerfen. In Krefeld machte man sich die Hände nicht schmutzig wie in Duisburg oder Essen. Das hatte Tradition. Nicht einmal in den Krieg zogen die Krefelder, weil Friedrich der Große seinen Werbern verbot, in der Stadt Rekruten anzuheuern. So edel fand er Krefeld. Leider gibt es inzwischen kaum noch Arbeit, nicht einmal für die, die sich die Hände gerne schmutzig machen würden. Und daher verströmt die Stadt eine gewisse Melancholie, eine Verschlafenheit, die den Besucher zu ständigem Gähnen inspiriert. Immerhin haben sie immer noch einen Zoo und einen leidlich erfolgreichen Eishockey-Club. Die Fußballer aus dem Stadtteil Uerdingen hingegen sind nach dem Rückzug des Bayer-Konzerns innerhalb von wenigen Jahren in die Amateur-Oberliga runtergereicht worden.
Städteplanerisch wirkt Krefeld an einigen Ecken etwas kopflos, was sich übrigens auch im Stadtwappen widerspiegelt. Es zeigt einen Dionysos mit abgeschlagenem Haupt unter dem Arm. Krefeld ist nach dem Abwurf von Brandbomben ein vernarbter Ort, wie es viele in Deutschland gibt. Die schönen Bürgerhäuser, die Parks, die herrschaftlichen Villen irritieren bei der Durchfahrt beinahe mehr als die Zweckbauten, die Umgehungsstraßen, der scheußliche architektonische Pragmatismus der Nachkriegszeit. Eines oder das andere, damit könnte man leben. Aber beides zusammen macht traurig.
In Krefeld eine Lesung abzuhalten, ist für mich nicht einfach, denn meine halbe Familie kommt aus Krefeld. Und meine Schwiegereltern auch, jedenfalls fast. Sie wohnen in einem westlich gelegenen Nachbarstädtchen, und natürlich möchte mein Schwiegervater gerne kommen. Ich sehe der Sache mit gemischten Gefühlen entgegen, denn schließlich mache ich ihn während der Lesung nach. Ich imitiere seine Art zu reden, seine Stimme, sein Lachen. Als guter Schwiegersohn reserviere ich Plätze in der ersten Reihe.
Das Theater, in dem ich lese, war früher eine Schule. Meine Mutter ist hier hingegangen. Damals gab es noch mit dem Lineal auf die Finger. Meine Mutter ist sehr diszipliniert, womöglich hat das mit der rustikalen Erziehung ihrer Generation zu tun. Sie sagte früher oft «The early bird catches the worm» zu mir, was leicht holpernd übersetzt heißt: «Der frühe Vogel fängt den Wurm.» Dieses Lob an den Frühaufsteher fand ich immer schon albern, denn wenn man die Logik des Satzes ernst nimmt, bedeutet er im Umkehrschluss, dass man als Wurm möglichst lange im Bett bleiben sollte, um nicht gefressen zu werden. Ist jetzt nur die Frage, wo man sich gesellschaftlich verortet, bei den Vögeln oder den Würmern.
Tatsächlich kommen meine Schwiegereltern zu der Lesung, und das irritiert mich anfangs schwer. Ich höre meinen Schwiegervater laut lachen, häähää. Und als ich fertig gelesen habe und mich verbeuge, steht er auf, stellt sich zu mir und verbeugt sich tief und würdevoll vor dem verdutzten Publikum.
Viersen. Korn mit Tabasco
15. September 2005
Am nächsten Tag muss ich nach Viersen, einem Ort am Niederrhein, der 70 000 Einwohner und erdgeschichtliche Bedeutung als Wimbledon des Billards hat. Hier finden nämlich die jährlichen Karambolage-Weltmeisterschaften statt. Billard ist im Grenzland zwischen Belgien, Deutschland und Holland sehr verbreitet. Der Sport bezieht einen großen Teil seiner Seriosität aus dem Umstand, dass die Spieler einem gewissen Dresscode unterworfen sind und meistens Fliegen und Westen tragen, mit denen sie aussehen wie flämische Nachtclubkellner.
Auch der Laden, in dem ich abends lese, kommt mir zunächst halbseiden vor. Er liegt an einer stark befahrenen Ausfallstraße und heißt «Conny’s Come in». Wenn
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