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In meinem kleinen Land

In meinem kleinen Land

Titel: In meinem kleinen Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Weiler
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Der Sozialismus hat den Menschen hier die Religion tüchtig ausgetrieben. Bloß fünfzehn Prozent der Hallenser gehören irgendeiner Kirche an, und knapp achtundneunzig Prozent sind um zweiundzwanzig Uhr im Bett. Hinter der Einkaufsstraße lauert Dunkelheit. Ich husche ins Hotel, gönne mir einen Rotwein in der Bar.

    Am nächsten Morgen im Zug nach Jena öffne ich die Schachtel mit den Halloren-Kugeln, die ich gestern geschenkt bekommen habe. Man muss ja alles mal probieren. Sehr weich und sehr süß. Die Schaffnerin kommt, eine Frau von Anfang vierzig. Ich biete ihr eine Halloren-Kugel an. Sie greift gerne zu. Damit sei sie aufgewachsen, sagt sie. Da schenke ich ihr die ganze Packung. Erst will sie sie nicht annehmen, aber ich sage:
    «Nehmen Sie die mit, mir sind die zu süß.»
    «Ich bin schon zu dick», antwortet sie, als würde sie laut denken.
    «Sie müssen sie ja nicht alleine essen.»
    Kurz vor Naumburg, wo ich umsteigen muss, kommt sie noch einmal vorbei.
    «Schönen Gruß vom Lokführer. Wir haben brüderlich geteilt.»
    Sie hat einen Schokoladensplitter an der Oberlippe.

Jena. Pröbeln für den Augenblick
    7. Februar 2006
    Wer von Halle nach Jena fährt, passiert die endlos sich hinziehenden, qualmenden Leuna-Werke, wo früher im VEB Kombinat Walter Ulbricht allerhand Giftiges und zuvor Sprengstoff hergestellt wurde. Heute dient der 1300 Hektar große Chemiestandort zweiundzwanzig Unternehmen als Sitz und unterhält eine eigene Ölpipeline, die Rohstoffe von Rostock anliefert. Es mag wohl auch einen Ort namens Leuna geben, aber von dem ist hinter den Tausenden von Schornsteinen nichts zu sehen, er besitzt nicht einmal einen Bahnhof, obwohl der Zug zweimal in Leuna hält. Die beiden Haltestellen heißen «Leunawerke Nord» und «Leunawerke Süd».
    Einige windschiefe Dörfer und Windmühlen später lande ich nicht auf einem Hauptbahnhof, sondern im Paradies. Eigentlich heißt es korrekt: in Paradies. In Jena-Paradies. Ich habe mich früher im Vorbeifahren öfter gefragt, was das wohl bedeuten soll: «Jena-Paradies». Es ist sehr einfach. Es handelt sich keinesfalls um einen lyrischen Einfall der Deutschen Bahn. Hätte auch niemand ernsthaft erwartet, und paradiesisch ist es im Paradies auch nicht. Hinter dem euphemistischen Namen verbirgt sich eine Plattenbausiedlung. Arbeiterschließfächer, sagen die Leute hier.
    Aber zurück zum Jenaer Bahnhofswesen. Es gibt noch einen weiteren, quasi gleichberechtigten Bahnhof in Jena, den Westbahnhof. Wohl, weil man keinen der beiden besonders adeln wollte, heißt keiner Hauptbahnhof. Auf jeden Fall ist man gehalten, sich gut zu informieren, von welcher der Haltestellen die Reise weitergeht, sonst wird es ziemlich kompliziert. Ich zum Beispiel muss morgen nach Weimar. Ein Fall für den Westbahnhof.
    Jena liegt recht bräsig und keinesfalls unzufrieden wirkend im Saaletal herum. Ganz ansehnliche Gegend. Überhaupt ist die Reise gerade interessant, weil ich in dieser Woche, ohne täglich lange mit dem Zug zu fahren, in drei Bundesländern bin: Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen. Das schafft man sonst nur im hessischen Raum, denn Hessen grenzt an rekordverdächtige sechs Bundesländer.

    Schräg gegenüber vom Hotel befindet sich das optische Museum. Ein absolutes Muss für jeden Brillenträger, finde ich. Also mal rüberlaufen und ansehen. Dass es ein Optik-Museum in Jena gibt, ist natürlich keine lokale Schrulle, wie etwa ein Pflaumen- oder ein Gartengerätemuseum, sondern liegt vielmehr auf der Hand. Weltberühmt sind die Jenaer Unternehmen Schott und Zeiss, deren Wirken überall in der Stadt gewürdigt und gefeiert wird, unter anderem in ebendiesem Museum.
    Man ahnt ja nicht, was es für wunderbare Brillen gibt. Alle Arten von Schutzbrillen zum Beispiel. Und natürlich Sonnenbrillen, Lesebrillen, Kinderbrillen, Schwimmbrillen. Dazu aber auch Schneebrillen, Autobrillen, Schweißerbrillen, Steinklopferbrillen, Panzerschutzbrillen, stenopäische Schlitzbrillen, Spezialbrillen für Hals-Nasen-Ohren-Ärzte, Kyphobenbrillen, Hemianopsiebrillen, Manokel und Monokel. Vorletztes und Letzteres unterscheiden sich übrigens dadurch, dass das Manokel vor das Auge gehalten und das Monokel unter Einsatz grimassierender Gesichtsmuskel vor dem Auge eingeklemmt wird.
    Im optischen Museum kann man auch Sehtests machen, bei denen aber in meinem Falle leider nicht herauskommt, dass meine Brille ein grober Unfug und Ergebnis einer ärztlichen Fehldiagnose ist. Ganz im Gegenteil.

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