In meinem kleinen Land
Und man erwirbt wertvolles Wissen für Gespräche an kalten Büfetts. Die Länge eines Augenblicks beträgt zum Beispiel drei Sekunden. Das ist die Dauer, für die sich das Auge fixiert, bevor es sich auf etwas anderes kapriziert. Drei Sekunden lang bleibt die Wahrnehmung konstant. Zu abstrakt?
Stellen Sie sich einen räumlich gezeichneten Würfel vor. Es stellt sich nun die Frage, welche der beiden sichtbaren quadratischen Flächen die vordere ist. Sie fixieren den Würfel, und bald erscheint Ihnen eines der Quadrate als das vordere. Aber schnell verlieren Sie diesen Eindruck wieder. Die Phase währt drei Sekunden, eben einen Augenblick lang. Wenn Sie dies einer hübschen Frau am Büfett erzählen, können Sie sicher sein, dass Sie am Ende des Abends alleine ins Bett gehen.
Ich bin eine Brillenschlange, ein Dioptrienrocker, ein Muschelauge, seit ich neun Jahre alt bin. Irgendwann konnte ich nicht mehr lesen, was die Lehrerin an die Tafel schrieb, und pinnte alles von meinem Nachbarn ab. Das ging eine ganze Weile so, bis ich es zu Hause erzählte. Meine Mutter ging mit mir zu einem Augenarzt, und der sagte: «Junger Mann, du brauchst eine Brille.» Ich war maßlos schockiert. Eine Brille zu tragen war Mitte der siebziger Jahre alles andere als cool. Dann log der Arzt mich an. Er behauptete, das sei eine Wachstumssache. Mit achtzehn Jahren sei ich die Brille ganz sicher wieder los. Ich habe ihm das schon damals nicht geglaubt. Vielleicht lag es daran, wie er meine Mutter dabei ansah. Ich glaubte, ein komplizenhaftes Zwinkern zu erkennen. Aber vielleicht irre ich mich in diesem Punkt, denn meine Augen waren ja nicht besonders gut.
Eine Woche später war meine Brille fertig, und wir holten sie ab. Der Optiker setzte sie mir auf, und ich weiß noch ganz genau, was ich deutlich und gestochen scharf sah, als ich mit der Brille durch das Schaufenster auf die Straße sah. Es war der Schriftzug «Kasse beim Fahrer» auf einer Straßenbahn, die gerade vor dem Geschäft hielt. Ich nahm die Brille ab, verglich und stellte fest, dass ich die Schrift ohne Brille nicht lesen konnte. Seitdem bin ich immer kurzsichtiger geworden. Dafür musste ich wenigstens keine Zahnspange tragen.
Im optischen Museum von Jena erlerne ich dann noch ein neues Wort, ein Verb: «Pröbeln.» Es meint das langwierige Ausprobieren beim Zusammensetzen von optischen Systemen wie etwa Mikroskopen. Die wurden früher pröbelnd zusammengefummelt, bis alles passte.
Spaziergang durch Jena, das mit einigen Reizen aufwarten kann, zum Beispiel einer angenehm jungen Bevölkerung: Mehr als ein Viertel aller Jenaer sind Studenten. Das schlägt sich im Stadtbild nieder, und es gibt eine hohe Dichte an schlechtgeklebten Veranstaltungsplakaten, wie in Freiburg.
In Jena lassen sich angeblich sieben Wunder bestaunen, allerdings sind es zum einen sehr kleine Wunder und außerdem in Wahrheit nur sechs, denn das Weigel’sche Haus steht gar nicht mehr. Es wurde vom Mathematikprofessor Erhard Weigel im siebzehnten Jahrhundert erbaut und verfügte über eine Weinleitung, einen Fahrstuhl und eine kleine Sternwarte. Man hat das Haus zugunsten einer neuen Straße abgerissen. Das Wunder des Schnapphans hingegen steht noch. Es handelt sich dabei um eine Figur am Rathaus, die zu jeder vollen Stunde nach einer goldenen Kugel schnappt. Die Kugel symbolisiert einen Thüringer Kloß. Schon crazy, dieses Jena.
Mitten in der Stadt fällt ein Hochhaus auf, das wegen seiner schieren Größe überhaupt nicht ins Bild passt und von der Bevölkerung Keksrolle genannt wird: der JenTower. Gleich daneben: die «Neue Mitte». So heißt das gigantische Einkaufszentrum. Da lese ich heute Abend. Aber vorher habe ich noch Zeit, also gehe ich ins Kino. Die ersten drei Minuten versäume ich, weil ich vorher in einem chinesischen Restaurant höllisch heißes Gemüse mit Reis in mich hineinstopfe.
Danach ins Hotel. Ich ziehe mich um, greife mir mein Manuskript und spaziere zu der Buchhandlung in der «Neuen Mitte». Keine besonderen Vorkommnisse, auch kein seltsamer Mensch, der mich böse ansieht.
Vor meiner Abfahrt nach Weimar trabe ich am nächsten Morgen zum Jenaer Planetarium. Es ist nicht das größte, aber angeblich das älteste der Welt. Ich liebe Planetarien. Zwar kapiere ich immer nach etwa drei Minuten nicht mehr so richtig, worum es geht, aber ich höre trotzdem gerne zu und bin überwältigt vom Sternenhimmel und von der Akustik. Jede Stadt, gleich welcher Größe, sollte ein
Weitere Kostenlose Bücher