In Nomine Diaboli: Historischer Kriminalroman (Historischer Roman)
Art Getreide war, das sich Reis nannte.
Nach dem Fisch kamen die Fleischgänge. Große Stücke vom gebratenen Wildschwein, ganze Truthähne, Kaninchen und Gänse, aber auch ein Berg kleiner Singvögel lagen auf den Holzplatten. Bei den Letzteren fragte sich Cunrat, wo Tettikover sie wohl um diese Jahreszeit aufgetrieben hatte. Gestampftes Fleisch war in unterschiedlichste Formen gepresst worden, sodass die Gäste vor Überraschung entzückt aufschrien, wenn sie sich ein Stück von einem vermeintlichen Fisch genommen hatten, dieser aber nach Lamm schmeckte, oder wenn ein Gericht in Form eines Löwen in Wirklichkeit aus Hasenfleisch gefertigt war.
Zum Fleischgang hatte sich der Burggraf von Nürnberg etwas ganz Besonderes einfallen lassen. Während zuvor Lautenspieler und Sänger das Essen begleitet hatten, traten nun Schauspieler ein, in prächtigen Gewändern mit silbernen und goldenen Spangen, die sogar ein paar kleine Kulissen mitbrachten, um Szenen aus dem Leben Jesu aufzuführen. Sie stellten sich am Ende des Saales auf, vor die Fenster, sodass König Sigismund und Königin Barbara auf den Ehrenplätzen den besten Blick hatten.
Zu diesem Spektakel durften auch die Kinder von Heinrich Tettikover in den Saal kommen. Von Gretli an der Hand geführt, traten sie zunächst vor den König und die Königin. Hänsli war gekleidet wie ein kleiner Ritter, mit dunkelblauen Beinlingen und einer burgunderroten, fein gesäumten Cotte, während Anna ein dunkelblaues Kleid mit silbernem Gürtel trug. Ihre blonden Haare hatte Gretli zu einer kunstvollen Zopffrisur mit Perlen geflochten. Das kleine Mädchen machte einen tiefen Knicks und Hänsli eine Verbeugung. Der König lachte und fuhr ihnen übers Haar.
»Zwei schöne Kinder, Herr Tettikover, bei Gott! Setzt euch zu uns, ihr beiden, und schaut euch an, was dort vorne geschieht!«
Gretli führte die Kinder zu ihren Eltern, auf deren Schoß sie Platz nehmen durften, während sie selbst im Hintergrund stehen blieb. Gebannt starrten Anna und Hänsli auf das Spektakel, das sich nun vor ihnen abspielte.
Als Erstes wurde die Geburt im Stall vorgeführt, mit feinen Tüchern und Gewändern, allerdings nicht mit einem echten Kind wie in der Christnacht in der Franziskanerkirche, sondern mit einer Stoffpuppe. Dann folgte der Besuch der Heiligen Drei Könige, denen ein goldener Stern an einem langen, quer durch die Stube gespannten Eisendraht voranschwebte. Einer der Könige sah mit seinem angeklebten roten Bart und den langen Haaren aus wie König Sigismund, er verneigte sich besonders ehrerbietig vor Königin Barbara. Die nächste Szene zeigte die Flucht nach Ägypten mit einem hölzernen Esel auf Rädern, und anschließend trat König Herodes auf, der die Ermordung der unschuldigen Kinder befahl. Deren Tötung wurde mithilfe werggefüllter Stoffpuppen vorgeführt, die grausam von Schwertern durchbohrt wurden, und während die Prälaten und Fürsten schmatzten und ihren heißen Wein schlürften, weinten auf der improvisierten Bühne die Mütter um ihre Kinder. Die kleine Anna begann ebenfalls zu weinen, da winkte ihre Mutter rasch Gretli heran, die Kinder wieder mit nach oben in die Privatgemächer zu nehmen. Hänsli protestierte und durfte noch bleiben, während Gretli das schluchzende Mädchen auf den Arm nahm und mit ihm den Saal verließ. In der hinteren Ecke stand Cunrat, und sie warf ihm im Vorbeigehen ein Lächeln zu.
Doch das Schauspiel ging noch weiter: Jesus zog auf dem hölzernen Esel nach Jerusalem ein, er wurde von Judas geküsst, gefangen genommen und schließlich gekreuzigt.
Die Gespräche am Tisch waren während der Aufführung kaum leiser geworden, und manche Szene wurde von den Anwesenden mit respektlosen Kommentaren begleitet.
»Hei, Joseph, mit dem Grautier wirst du aber lang brauchen bis nach Ägypten!«
»Nein, schau, jetzt hat er’s schon bis Jerusalem geschafft!«
Als aber am Ende der bärtige, etwas magere Jesus theatralisch zwischen den zwei Schächern am Kreuz hing, klatschten alle begeistert Beifall, und der König warf den Schauspielern ein paar Münzen zu. Dann begaben sich diese in die Küche, wo sie ihren vereinbarten Lohn und ein Essen in Empfang nahmen. Cunrat hatte in einer Ecke des Saales gestanden und beim Anblick der heiligen Geschichten völlig vergessen, dass er zum Arbeiten hier war. Nur Gretlis Lächeln hatte für einen Augenblick seine Aufmerksamkeit abgelenkt. Am Ende hatte er am lautesten von allen geklatscht, so ergriffen war er
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