In Nomine Mortis
wichtigsten Regeln eines jeden Mönches: stabilitas loci — ich würde im Kloster
bleiben; conversatio morum — mein Lebenswandel würde stets sittlich sein; und, mehr als
alles andere, oboedientia — ich versprach Gehorsam. Nicht in den schlimmsten Träumen hätte
ich zu jener Zeit daran gedacht, auch nur eine dieser Regeln zu brechen.
So wuchs ich heran, zusammen mit zwei Dutzend jungen Mönchen. Schon
früh strebte ich nach den Früchten des Geistes. Ich lernte in
der Klosterschule die Sieben Freien Künste und der HERR ließ
mich Wissen einsaugen, wie der nach einem langen, dürren Sommer
ausgetrocknete Erdboden den ersten Herbstregen aufnimmt. Die anderen Mönche
spotteten immer seltener über mich - oder zumindest lästerten
sie nur noch heimlich meiner und nicht mehr offen, je weiter unser curriculum voranschritt. Meine Mitbrüder
liebten mich nicht, der ich ihnen im Unterrricht in allem voraus war, doch
brachten sie mir nun wenigstens Respekt entgegen. Und manchmal meinte ich
gar schon damals, ein anderes Gefühl zu spüren, wenn sie mich,
vermeintlich unbeobachtet, aus den Augenwinkeln betrachteten. Angst.
Arithmetik und Astronomie,
Geometrie und Musik fielen mir leicht, doch verwendete ich nicht mehr Zeit
und Mühsal des Gedankens darauf als notwendig. Doch wie sehr liebte
ich Grammatik, Rhetorik und, besonders, Dialektik: questio, disputatio, conclusio, Frage, Streitgespräch, Lösung.
Die Logik offenbart uns GOTTES Gesetz: klar und schön und
unerbittlich. Sie hilft uns, auch aus größter Verwirrung und
Verdunkelung des Geistes zurückzufinden ans Licht der Erkenntnis.
Falschheit und Trug zerreißt sie, wie ein erfahrener Tuchhändler,
der ein minderwertiges Vlies mit verächtlicher Geste zerfetzt. Ich
lebte hinter Klostermauern - und doch tat sich mir eine Welt auf,
unendlich viel weiter als die Welt der Ritter, ja selbst als die Welt der
Kaufleute. Mochte Messer Marco Polo aus Venedig auch bis nach Cathay
gelangt sein und bis Cipango am Weltenrand, die Grenzen meiner Welt waren
noch viel weiter gesteckt.
Im Armarium, der Bibliothek,
studierte ich die Heilige Schrift. Gierig fraßen meine Augen auch
die Seiten anderer sakraler Schriften: Sakramentar, Antifonar, Missale -
ich las alles. Dann wagte ich mich an Augustinus. Anschließend
studierte ich Albertus Magnus und den unvergleichlichen Thomas, die beiden
Leuchten der Christenheit und Zierden des Ordens, dessen Tracht ich selbst
nun mit jedem Tag um ein weniges stolzer trug. Lehrte Albertus Magnus
nicht auch in Köln? Er und Thomas waren mir auch die Führer, die
meinen Geist an die Hand nahmen zu den Weisen alter Zeit, welche die
Gesetze des Kosmos ergründeten, welche man jedoch nur mit Vorsicht
studieren durfte, da sie ja Heiden waren: Aristoteles und Platon zeigten
mir, wie ich zu denken hatte.
Als ich dann auch noch die
fast tausend Jahre alte »Etymologiae« des Isidor von Sevilla
gelesen, ja beinahe auswendig gelernt hatte, da glaubte ich, nun alles zu
wissen, was es in dieser Welt zu wissen gab. Oft schlich ich mich nach den
Vigilien, wenn die Mitbrüder müde zurück zu ihren harten
Pritschen schwankten, in die Bibliothek, entzündete einen
Kerzenstumpen und beugte mich über die schweren Folianten, die so
herrlich nach Pergament und Leder und Weisheit dufteten.
Meine Oberen sahen das wohl,
gaben mir anfangs milde Strafen, doch ließen mich später gewähren.
Sind nicht wir Dominikaner in der ganzen Christenheit berühmt für
unsere Gelehrsamkeit? Mich dürstete nach Wissen - und der HERR gab
mir einen Prior, der meinen Durst gnädig stillte.
Eines Tages hatte er mich in
seine Zelle befohlen.
»Bruder Ranulf«,
hatte er gesagt, »ich sehe wohl, dass du nach der vollkommenen
Erkenntnis strebst. Es gibt tausend Wege zu GOTT, doch für dich kann
es nur einen geben: den, der über Paris führt.« Und so
hatte er mich, kaum dass ich meinen Magister in den Sieben Freien Künsten
erworben hatte, zum Studium der Theologie entsandt an den Ort, der allein
der Lehre der höchsten Wissenschaft von allen würdig war: Paris,
die größte Stadt der Christenheit. Ich weiß wohl, dass
unsere gelehrtesten Kartografen Jerusalem für den Mittelpunkt der
Weltenscheibe ausgeben. Doch für mich, der HERR möge mir meine
Vermessenheit vergeben, lag das Zentrum der Welt an der Seine. Dort erhob
sich die berühmteste Universität des
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