In seinen Händen - Coben, H: In seinen Händen - Caught
sie also noch gut zu erkennen, hatte allerdings keine Haut mehr. Möchten Sie Fotos der Überreste sehen?«
Wendy blickte zu Walker hinüber. Der sah aus, als müsste er sich übergeben.
»Ja«, sagte Wendy.
Tara schob ein paar Fotos über den Tisch, als wären es Speisekarten. Wendy sammelte sich einen Moment lang. Wenn es um Blut und Leichen ging, hatte auch sie nicht den stärksten Magen. Ihr wurde schon bei Filmen oft mulmig, die sich Siebzehnjährige in Begleitung eines Erwachsenen ansehen durften. Jetzt riskierte sie einen kurzen Blick und wandte sich dann sofort ab, aber schon diese grausige Sekunde hatte ihr gereicht, die schrecklich zersetzten Gesichtszüge Haley McWaids zu erkennen.
»Beide Eltern, Ted und Marcia McWaid, bestanden darauf, die Leiche ihrer Tochter zu sehen«, fuhr O’Neill absolut emotionslos fort. »Beide erkannten ihre Tochter und identifizierten sie eindeutig. Dennoch haben wir uns damit nicht zufriedengegeben. Größe und Körperbau des Skeletts stimmen mit dem der vermissten Haley McWaid überein. Des Weiteren hatte diese sich im Alter von zwölf Jahren die Hand gebrochen - den Mittelhandknochen unter dem, was man umgangssprachlich den Ringfinger nennt. Die Verletzung war natürlich verheilt, das Narbengewebe, das sich dabei gebildet hatte, war auf den Röntgenbildern jedoch gut erkennbar. Und natürlich haben wir einen DNA-Test durchgeführt und mit einer Probe verglichen, die wir von ihrer Schwester Patricia bekommen haben. Sie stimmten überein. Zusammengefasst bestehen also keinerlei Zweifel über die Identität der Toten.«
»Was ist mit der Todesursache?«
Tara O’Neill legte die Hände auf dem Tisch zusammen. »Die konnten wir bis jetzt nicht ermitteln.«
»Was meinen Sie, wie lange Sie dafür brauchen?«
Tara O’Neill streckte die Hand aus und nahm die Fotos wieder an sich. »Wenn ich ehrlich sein soll«, sagte sie, »glaube ich nicht, dass wir was rausfinden.«
Vorsichtig schob sie die Fotos wieder in den Ordner zurück, klappte ihn zu und legte ihn neben sich.
»Moment mal, Sie glauben nicht, dass Sie die Todesursache je herausbekommen?«
»Das ist richtig.«
»Ist das nicht ungewöhnlich?«
Jetzt lächelte Tara O’Neill doch. Ihr Lächeln war gleichzeitig strahlend und ernüchternd. »Nein, eigentlich nicht. Unglücklicherweise ist die Bevölkerung unseres Landes mit Fernsehsendungen aufgewachsen, in denen Gerichtsmediziner Wunder bewirken können. Sie sehen durch Mikroskope und finden so die Antworten auf alle offenen Fragen. In der Realität ist das leider anders. Stellen wir uns zum Beispiel die Frage, ob auf Haley McWaid geschossen wurde. Erstens - und diese Auskunft stammt in erster Linie von der Spurensicherung: Am Tatort wurden keine Kugeln gefunden. Und zweitens: Auch im Körper befanden sich keine Kugeln. Ich habe auch ein paar Fotos und Röntgenbilder gemacht, um festzustellen, ob es ungewöhnliche Kerben oder Einschnitte in den Knochen gibt, die auf eine Schusswunde hindeuten. Es gibt sie nicht. Dennoch kann ich trotz dieser aufwendigen Untersuchung immer noch nicht endgültig ausschließen, dass auf sie geschossen wurde. Vielleicht hat die Kugel keinen Knochen getroffen. Und da der Leichnam schon stark verwest ist, würden wir es nicht mehr unbedingt erkennen, wenn die Kugel nur Gewebe durchschlagen
hätte. Es gibt also keinen Hinweis darauf, dass auf Haley McWaid geschossen wurde. Mehr kann ich nicht sagen. Und damit ist es relativ unwahrscheinlich. Können Sie mir folgen?«
»Ja.«
»Gut. Bezüglich eines Messerstichs läuft die Argumentation ganz ähnlich ab, auch das halte ich für unwahrscheinlich, kann es aber nicht ganz ausschließen. Hätte der Angreifer zum Beispiel eine wichtige Arterie …«
»Ja, ich glaube, ich hab’s verstanden.«
»Und natürlich gibt es noch viele andere Möglichkeiten. Das Opfer könnte erstickt worden sein - zum Beispiel ganz klassisch mit dem Kissen auf dem Gesicht. Selbst in vielen Fällen, wo die Leiche nach ein paar Tagen statt nach ein paar Monaten gefunden wird, ist es oft schwierig, einen Tod durch Ersticken eindeutig zu bestimmen. Aber in diesem Fall, nachdem die Leiche höchstwahrscheinlich drei Monate in der Erde lag, ist es praktisch unmöglich. Außerdem habe ich ein paar spezielle Drogentests durchgeführt, um festzustellen, ob noch Drogen oder Medikamente im Körper sind, aber wenn die Verwesung schon so weit fortgeschritten ist, werden die Enzyme aus dem Blut freigesetzt. Dadurch werden viele
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