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In seiner Hand

Titel: In seiner Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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hoher See zurückgekommen. Seit Wochen meine erste Nacht auf festem Boden. Und was hat dich hierher verschlagen?«
    Da wurde mir klar, dass ich inzwischen aussah wie eine Streunerin. Ich war eine von ihnen geworden. Hier musste ich mir keine Mühe geben, um verstanden zu werden. Ich ließ mich am Feuer nieder und nahm einen Schluck von meinem lauwarmen, bitteren Tee. Der Rauch des Feuers brannte in meinen Augen.
    »Das weiß ich ehrlich gesagt nicht so genau«, antwortete ich.
    »Aber Betty hat mir von euch erzählt.«
    »Betty?«
    »Die alte Frau mit den vielen Katzen«, mischte sich Crystal ein. »Du hast uns letztes Mal schon von ihr erzählt.«
    Ich nickte. Mir war plötzlich friedlich zumute. Die Anspannung war von mir abgefallen. Vielleicht wäre es gar nicht so schlimm, tot zu sein. »Ja, wahrscheinlich«, antwortete ich.
    »Wahrscheinlich habe ich euch auch schon nach meiner Freundin Jo gefragt.«
    »Stimmt. Jo.«
    »Ich habe euch gefragt, ob sie hier war.«
    »Möchtest du eine Kippe?«, fragte Boby.
    »Gern.« Ich griff nach der dünnen, selbstgedrehten Zigarette, die er mir hinhielt. Ram gab mir Feuer. Ich inhalierte und musste sofort husten, spürte einen Anflug von Übelkeit. Trotzdem zog ich gleich noch einmal. »War sie hier?«
    »Ja«, antwortete Crystal. Sie sah mich an. »Bist du okay?«
    »Ja.«
    »Hier. Iss ein paar Bohnen.« Sie griff nach einer der Bohnendosen, die am Feuer standen, steckte einen Plastiklöffel hinein und reichte sie mir. Ich schob mir einen Löffel voll in den Mund. Widerlich. Noch einen.
    Dann saugte ich wieder an der Zigarette, sog den beißenden Rauch in meine Lungen.
    »Großartig«, sagte ich. »Danke. Demnach war Jo also wirklich hier?«
    »Ja. Aber das habe ich dir schon beim letzten Mal erzählt.«
    »Ich kann mich an vieles nicht erinnern«, erklärte ich.
    »Das geht mir auch immer öfter so«, bemerkte Ram und versuchte sich an einem weiteren Akkord. Die Kirchentür ging auf, und ein Mann schob den Kinderwagen mit dem Holz herein. Nachdem er ein paar Scheite ins Feuer geworfen hatte, beugte er sich zu Crystal und küsste sie lange.
    »Sie war also auf der Suche nach einem Kätzchen?«, fuhr ich schließlich fort.
    »Weil diese verrückte Betty sich einbildet, dass wir hier Katzen haben.«
    »Habt ihr denn keine?«
    »Siehst du welche?«
    »Nein.«
    »Natürlich verirren sich hin und wieder ein paar Streuner zu uns, weil wir ihnen Milch und Futter geben. Und letzten Monat haben ein paar von uns an einer Aktion teilgenommen, bei der Katzen aus einem Labor befreit wurden. Trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, wie diese Betty von uns erfahren hat.«
    »Das weiß ich auch nicht«, sagte ich. »Dann ist sie also einfach wieder gegangen?«
    »Jo?«
    »Ja.«
    »Sie hat uns ein bisschen Geld für unsere Projekte gegeben. Einen Fünfer, glaube ich.«
    »Und das war’s dann?«
    »Ja.«
    »Aha.« Ich blickte mich um. Vielleicht konnte ich mich ihnen anschließen, auch eine Reisende werden, mich wie sie von Bohnen ernähren, auf Steinböden oder auf Bäumen schlafen und Zigaretten drehen, bis meine Finger davon ganz gelb waren. Das wäre zumindest etwas anderes, als Büroeinrichtungen zu entwerfen.
    »Ich habe ihr allerdings noch den Tipp gegeben, es bei Arnold Slater zu versuchen.«
    »Arnold Slater?«

    »Das ist der alte Mann, zu dem wir ein paar von den Streunern gebracht haben. Als die Hunde anfingen, Jagd auf sie zu machen. Er sitzt im Rollstuhl, kümmert sich aber trotzdem um sie.«
    »Und zu ihm wollte Jo von hier aus?«
    »Ich nehme es an. Hat sie jedenfalls gesagt. Du übrigens auch – beim letzten Mal, meine ich. Seltsam, nicht wahr?
    Wie ein Déja-vu-Erlebnis. Glaubst du an so was?«
    »Natürlich. Mein Leben ist wie eine Karussellfahrt, eine Runde nach der anderen.« Ich warf das Ende der selbstgedrehten Zigarette ins Feuer und trank meinen Tee aus. »Danke«, sagte ich. Dann wandte ich mich mit einem Ruck zu Boby um.
    »Du hast eine große Spinnentätowierung, stimmt’s?«
    Er lief knallrot an. Verlegen schob er seinen dicken Pulli hoch. Auf seinem flachen weißen Bauch prangte ein tätowiertes Netz, das sich offenbar bis nach hinten über seinen Rücken erstreckte, auch wenn ich diesen Teil nicht sehen konnte.
    »Schau«, sagte er.
    »Aber wo ist die Spinne geblieben?«, fragte ich.
    »Das hast du letztes Mal auch gefragt.«
    »Folglich bin ich eine konsequente Person«, meinte ich.
    Beim Verlassen der Kirche stellte ich fest, dass es inzwischen dunkel

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