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In seiner Hand

Titel: In seiner Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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ihres letzten Tages vorgestoßen. Alles andere war verblasst, ich sah nur noch ihre zurückweichende Gestalt, in deren Fußspuren ich dahinstolperte. Aber wer folgte meiner Spur? Wer war hinter mir her?
    Betty hatte von Hippies gesprochen, aber nach allem, was sie mir über sie gesagt hatte – ihre Dreadlocks und ihre Flickenklamotten –, ging ich davon aus, dass es sich um New-Age-Reisende handelte. Sie hatte mir erzählt, sie würden in einer verlassenen Kirche drüben in Islington hausen, und ich betete, dass sie noch nicht weitergezogen waren. Im Laufschritt eilte ich zur Hauptstraße zurück und winkte einem Taxi. Während der Fahrt blickte ich mich immer wieder über die Schulter um, hielt nach einem Gesicht Ausschau, das mir bekannt vorkam. Obwohl ich niemanden entdecken konnte, hatte ich das beängstigende Gefühl, dass mir nicht mehr viel Zeit blieb. Ich saß auf der Kante der Sitzbank und zappelte jedes Mal ungeduldig vor mich hin, wenn sich der Verkehr staute oder wir an einer roten Ampel anhalten mussten.
    Als wir es endlich bis nach Islington geschafft hatten, wurde es bereits dunkel. Ich hatte jedes Zeitgefühl verloren und konnte nicht einmal mehr sagen, welcher Tag gerade war. Ein Wochentag, so viel wusste ich. Die meisten Leute waren noch im Büro, saßen in geheizten Zimmern, tranken Kaffee aus einem Automaten, führten Besprechungen, die sie für ungemein wichtig hielten. Ich bezahlte die Taxifahrerin, stieg aus und musste gleich einer gefrorenen Pfütze ausweichen. Aus dem tief hängenden, sich verdunkelnden Himmel rieselten Schneeflocken herab. Ich schlug den Kragen meiner Jacke hoch und setzte mich in Bewegung.
    Ein Teil der Kirche war bunt gestrichen, und über die Holzrippen der großen Eingangstür spannte sich ein asymmetrischer Regenbogen. An der Wand lehnte ein rostiges, rosa besprühtes Fahrrad, daneben ein alter Kinderwagen mit Holz und ein weiterer voller Konservendosen. An der Seite der Kirche parkte ein mit Spiralen und Blumen bemalter Lieferwagen, bei dem an sämtlichen Fenstern Jalousien heruntergelassen waren. Ein großer graubrauner Hund schnüffelte an den Reifen herum.
    Ich hob den Türklopfer an und ließ ihn mit Schwung gegen die Tür prallen, die bereits einen Spalt offen stand.
    »Einfach aufschieben und reinkommen!«, rief eine Frauenstimme.
    Das Innere der Kirche war düster und verqualmt. Auf dem Boden war eine provisorische Feuerstelle mit ein paar Steinen errichtet, um die sich eine Gruppe von Leuten scharte. Fast alle waren in Decken oder Schlafsäcke gehüllt. Ein Mann hielt eine Gitarre, schien aber nicht darauf spielen zu wollen. Im hinteren Teil der Kirche, wo noch ein paar Bänke standen, sah ich weitere Gestalten.
    Matratzen und Taschen waren über den Boden verteilt.
    Eines der Buntglasfenster hatte einen großen Sprung.
    »Hallo«, sagte ich unsicher. »Entschuldigung, dass ich einfach so hereinschneie.«
    »Du bist hier jederzeit willkommen«, antwortete eine Frau mit kurz geschorenem Haar und Piercings in Augenbrauen, Nase, Lippen und Kinn. Als sie sich vorbeugte, um mir die Hand zu geben, klirrten an ihrem Arm dicke Kupferarmreifen.
    »Ich heiße Abbie«, stellte ich mich vor und schüttelte ihre Hand, die in einem dicken Wollhandschuh steckte.
    »Ich wollte nur fragen …«
    »Wir wissen, dass du Abbie heißt – zumindest ich weiß es. Ein paar von uns sind erst in den letzten Tagen eingetroffen. Ich bin Crystal – erinnerst du dich? Du hast dir die Haare schneiden lassen, stimmt’s?«, fügte sie hinzu. »Möchtest du eine Tasse Tee? Boby hat gerade welchen gemacht. Boby! Noch eine Tasse Tee, bitte – wir haben Besuch! Du nimmst keinen Zucker, richtig? Ich merke mir immer, wie die Leute ihren Tee trinken.«

    Boby kam mit einer Zinntasse voll schlammfarbenem Tee zu uns herüber. Er war klein und dünn, bleich und nervös. Seine Armyhose war ihm viel zu weit, und sein Hals wirkte durch seinen dicken Strickpullover noch dünner.
    »Danke«, sagte ich. »Ich bin schon mal hier gewesen, nicht wahr?«
    »Wir haben ein bisschen Bohnengemüse übrig. Möchtest du welches?«
    »Ich habe keinen Hunger«, sagte ich. »Vielen Dank.«
    Der Mann mit der Gitarre strich mit den Fingern über den Hals seines Instruments und produzierte ein paar schräge Akkorde. Als er mich angrinste, sah ich, dass sein Mund voller schwarzer, zum Teil abgebrochener Zähne war. »Ich bin Ramsay«, stellte er sich vor. »Oder einfach Ram. Ich bin gestern von einer Umweltaktion auf

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