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In seiner Hand

Titel: In seiner Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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Ich warf zwanzig Pence ein und wählte. Es läutete dreimal, dann nahm jemand ab.
    »Hallo?«, sagte ich.
    Ich bekam keine Antwort, hörte am anderen Ende aber jemanden atmen.

    »Hallo, wer ist bitte dran? Hallo? Hallo?«
    Die Atemgeräusche waren immer noch zu hören. Ich musste an pfeifendes Lachen in der Dunkelheit denken, eine Kapuze, Hände, die mich von einem Mauervorsprung hoben, auf einen Kübel setzten. Erst jetzt wurde mir vollends klar, was ich da eigentlich tat, und diese Erkenntnis ließ mich nach Luft ringen. Dennoch gelang es mir, ein paar Worte zu stammeln: »Kann ich bitte mit Abbie sprechen?«
    Eine Stimme, von der ich nicht genau wusste, ob sie mir vertraut vorkam oder nicht, antwortete: »Sie ist im Moment nicht da.« Inzwischen tropfte mir der Schweiß von der Stirn, und der Telefonhörer fühlte sich in meiner Hand ganz glitschig an. Die Stimme fuhr fort: »Ich kann ihr aber ausrichten, dass Sie angerufen haben. Mit wem spreche ich?«
    »Jo«, hörte ich mich sagen. Ich hatte das Gefühl, mich gleich übergeben zu müssen. In meinem Hals stieg Galle hoch.
    Die Verbindung wurde unterbrochen. Einige Sekunden lang war ich wie gelähmt und behielt den Hörer in der Hand. Ein gehbehinderter Mann blieb vor der Telefonzelle stehen und klopfte mit einer seiner Krücken gegen das Glas. Ich legte den Hörer auf, stürmte aus der Zelle und rannte zur Wohnung zurück, als würde ich verfolgt werden.
    Ich hatte die Tüte mit den Dingen, die ich mitgenommen hatte, als ich das Krankenhaus verließ – die Kleider, die ich getragen hatte, als ich gefunden worden war, und die Kleinigkeiten, die im Krankenhaus hinzugekommen waren
    –, in den Kleiderschrank gestellt. Jetzt durchwühlte ich sie hektisch und fand zu meiner großen Erleichterung die Karte, die Inspector Cross mir gegeben hatte. Ich wählte seine Nummer, er hob sofort ab.
    Es war kein besonders großes Vergnügen, wieder mit Cross zu sprechen. Bei unserem letzten Treffen im Krankenhaus war er eher verlegen, aber auch recht mitfühlend gewesen. Vielleicht war auch mitleidig das treffendere Wort – doch es war ein Mitleid gewesen, das mich zu dem Zeitpunkt mit Wut, Scham und Entsetzen erfüllt hatte und mir auch jetzt noch ein mulmiges Gefühl verursachte. Ich sagte, ich hätte ihm etwas Wichtiges mitzuteilen, würde aber unter keinen Umständen einen Fuß ins Polizeipräsidium setzen, und ob er eventuell zu mir kommen könne. Er antwortete, es sei vermutlich ohnehin besser, wenn er außerhalb seiner Dienstzeit mit mir sprechen würde. Ich kam mir vor, als hätte ich ihn um etwas Illegales gebeten. Wir vereinbarten, dass er kurz nach fünf Uhr zu mir in die Wohnung kommen würde.
    Unser Gespräch dauerte knapp eine Minute. Nachdem ich den Hörer aufgelegt hatte, war mir so unwohl, dass ich zwei Tabletten nehmen musste, ein Glas Wasser hinterherkippte und mich dann eine Weile auf mein Bett legte, mit dem Gesicht nach unten, die Augen geschlossen.
    Hatte ich tatsächlich mit ihm gesprochen? Ich wusste es nicht, aber das Gefühl, das ich in der Telefonzelle gehabt hatte – ein Gefühl, das man sonst nur in einem Alptraum hat, kurz bevor man aus dem Schlaf hochschreckt, ein Gefühl des Fallens, als würde man in einen dunklen Abgrund stürzen –, war so stark gewesen, dass ich mich noch immer schwindlig und zittrig fühlte.
    Bis zu Cross’ Eintreffen blieben mir zwei Stunden.
    Wenn man es vor Angst und Einsamkeit kaum aushält, ist das eine lange Zeit. Ich schenkte mir ein Glas Wein ein, schüttete ihn dann aber in den Ausguss, statt ihn zu trinken. Ich bestrich eine Scheibe Toast mit Marmite.
    Nachdem ich sie gegessen hatte, löffelte ich ein wenig Joghurt in eine Schüssel und rührte Honig darunter. Eine wohltuende Mischung. Hinterher trank ich eine große Tasse Tee. Dann beschloss ich, mich umzuziehen. Es war wohl das Beste, wenn ich etwas Schlichtes, Respektables trüge – etwas, in dem ich wie ein rational denkendes Wesen mit gesundem Menschenverstand aussah und nicht wie eine Irre, die Geschichten über Entführungen und Mörder erfand. Ich entschied mich für eine beigefarbene Hose und einen Kaschmirpulli mit V-Ausschnitt – das Outfit, das ich immer getragen hatte, wenn ich zu einer Besprechung mit der Finanzabteilung unserer Firma musste. Das Problem bestand jedoch darin, dass ich nicht mehr dieselbe war. Meine alten Sachen schlackerten immer noch um meinen Körper, so dass ich ein bisschen aussah wie ein Kind, das sich mit Erwachsenenmode

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