In seiner Hand
fest, dass ich weinte.
Ich schaltete den Fernseher aus und legte die Videokassette in Jos Zimmer zurück, auf das Buch mit den fröhlichen Gedichten. Erst jetzt entdeckte ich auf ihrem Schrank neben einem Fernglas und einem Kassettenrekorder die Videokamera. Im Wohnzimmer läutete zweimal das Telefon, ehe sich der Anrufbeantworter einschaltete. Nach einer Pause sagte eine Stimme: »Hallo, Jo, ich bin’s. Wollte mich nur wegen heute Abend noch mal melden. Wenn ich nichts von dir höre, gehe ich davon aus, dass du Zeit hast.« Er hinterließ keinen Namen. Irgendwo würde abends jemand auf Jo warten, ein Freund oder ein Geliebter. Aus einem spontanen Impuls heraus wählte ich die 1471, konnte die Nummer des Anrufers aber nicht in Erfahrung bringen.
Wahrscheinlich hatte er von einem Büro aus angerufen.
Ein paar Minuten später klingelte das Telefon erneut. Ich nahm sofort ab.
»Hallo?«, meldete ich mich.
»Jo?«, fragte eine weibliche Stimme am anderen Ende.
Bevor ich antworten konnte, legte die Anruferin ziemlich laut und zornig los: »Jo, hier spricht Claire Benedict. Wie Sie wahrscheinlich wissen, habe ich schon Dutzende von Nachrichten auf Ihrem Band hinterlassen, auf die Sie nie reagiert haben, aber …«
»Nein, hier ist …«
»Ihnen ist sicher klar, dass Ihre Arbeit mittlerweile in der Druckerei sein sollte.«
»Hören Sie, hier ist nicht Jo, sondern eine Freundin von ihr. Abbie. Tut mir Leid.«
»Oh! Können Sie mir vielleicht sagen, wo Jo ist? Wie Sie wahrscheinlich mitbekommen haben, muss ich sie dringend sprechen.«
»Ich weiß nicht, wo sie ist.«
»Oh. Wenn Sie sie sehen, dann sagen Sie ihr bitte, dass ich angerufen habe. Claire Benedict von ISP. Sie weiß dann schon, worum es geht.«
»Ja, aber das ist ja gerade das Problem. Sie scheint verschwunden zu sein. Wann hätte sie ihre Arbeit denn abgeben müssen?«
»Verschwunden?«
»Nun ja, ich bin mir nicht sicher.«
»Sie hätte ihren formatierten Text spätestens am Montag, dem einundzwanzigsten Januar bei uns einreichen sollen. Sie hat nie etwas von Terminschwierigkeiten gesagt. Sie hat sich einfach nicht mehr bei uns gemeldet.«
»Wissen Sie, ob sie sonst zuverlässig ist?«
»Ja. Sehr sogar. Hören Sie, war das vorhin ihr Ernst?
Dass sie verschwunden ist?«
»Ich werde Sie anrufen, sobald ich Genaueres weiß, in Ordnung? Moment, ich notiere mir Ihre Nummer.«
Nachdem ich sie auf die Rückseite von einem der noch ungeöffneten Briefumschläge gekritzelt hatte, legte ich auf.
In dem Augenblick klingelte es an der Tür.
Eine Schrecksekunde lang glaubte ich, aus Cross wäre ein anderer Mensch geworden. Ich hatte ihn immer nur im Anzug gesehen, mit ordentlich zurückgekämmtem Haar und undurchdringlicher Miene. Jetzt trug er eine alte braune Kordhose, einen dicken Pulli und eine blaue Steppjacke, deren Kapuze er sich über den Kopf gezogen hatte. Er sah aus, als würde er draußen im Garten stehen und in einem Lagerfeuer herumstochern. Oder mit seinen Kindern spielen. Hatte er überhaupt Kinder? Nur seine stirnrunzelnde Miene war noch dieselbe.
»Hallo«, sagte ich und trat zurück, um ihn eintreten zu lassen. »Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihr Kommen.«
»Abbie?«
»Mein neuer Look. Gefalle ich Ihnen?«
»Ganz schön kühn.«
»Das ist meine Tarnung.«
»Verstehe.« Er schien sich ziemlich unbehaglich zu fühlen.
»Auf jeden Fall sehen Sie viel besser aus. Gesünder.«
»Möchten Sie eine Tasse Tee?«
»Gern.« Er blickte sich um. »Sie haben eine nette Wohnung gefunden.«
»Ich weiß selbst nicht so recht, wie ich sie gefunden habe.«
Cross sah mich fragend an, verfolgte das Thema aber nicht weiter. Statt dessen fragte er: »Wie geht es Ihnen?«
»Ich werde vor Angst fast wahnsinnig.« Ich war gerade dabei, das kochende Wasser über die Teebeutel zu gießen, und stand mit dem Rücken zu ihm. »Aber das ist nicht der Grund, warum ich Sie sehen wollte. Ich habe neue Informationen. Nehmen Sie Zucker?«
»Einen Löffel, bitte.«
»Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht einmal einen Keks anbieten. Aber ich könnte Ihnen einen Toast machen.«
»Ich habe keinen Hunger, danke. Ist Ihnen etwas eingefallen?«
»Nein, leider nicht.« Ich reichte ihm den Tee und nahm ihm gegenüber auf meinem Sessel Platz. »Trotzdem würde ich gern über zwei Dinge mit Ihnen sprechen. Zum einen glaube ich, dass ich gerade mit ihm gesprochen habe.«
Er verzog keine Miene. »Mit ihm?« Sein Ton klang höflich.
»Mit dem Mann, der mich
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