In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)
hatte, die sie sehr mochte. »Bestimmt weiß doch die Oma, wo ihre Enkelin abgeblieben ist«, hatte sie gesagt. Sie würde in einem kleinen Häuschen ganz am Anfang des Feldrains wohnen. Die Hausnummer wüsste sie nicht mehr. »Aber du kannst es nicht verfehlen. Es ist knallpink.«
Theo hatte sofort gewusst, von welchem Haus sie sprach.
Nach einem Blick auf die Armbanduhr hatte er entschieden, noch vor dem Termin mit den Angehörigen einer Verstorbenen kurz dort vorbeizufahren. Es lag sowieso auf dem Weg.
Das Haus machte einen etwas vernachlässigten Eindruck. Der Rasen war kniehoch gewachsen und der knallbunte Anstrich blätterte in großen Fladen von den Wänden.
Die Gartenpforte hing schief in ihren Angeln, sodass sie über den Kies schrapte, als er sie aufdrückte. Aber die Fenster funkelten sauber in der Abendsonne und auf einer Bank neben der Haustür lagen eine Strickjacke und ein aufgeschlagenes Buch, das offenbar schon einige Jahrzehnte auf dem Buckel hatte. »Gösta Berling« von Selma Lagerlöf entzifferte er, als er die Klingel drückte. Bestimmt hatte Sannas Großmutter den Roman schon viele Male gelesen.
Doch die Frau, die ihm die Tür öffnete, war nicht älter als er selbst.
»Hallo, Theo«, hatte sie gesagt. Und dann hatte sie ihm eins übergebraten. Zumindest wies die enorme Beule auf seinem Kopf darauf hin.
Abrupt ließ er die Wasserflasche auf den Tisch knallen und ging zurück zu Nathalie. Er packte sie mit seinen gefesselten Händen an der Schulter und rüttelte sie leicht.
Sie stöhnte.
»Nathalie, komm schon.«
Im Zwielicht sah er, wie sie langsam die Augen öffnete. »Lass mich«, sagte sie, »mir geht’s nicht gut.« Offenbar hatte sie auch eine ordentliche Dosis K.-o.-Tropfen erhalten, oder was die Irre ihnen sonst eingeflößt hatte.
»Es war gar nicht Sylvia, die uns gekidnappt hat.«
»Ist mir egal«, murmelte Nathalie.
»Glaubst du, es ist Sanna gewesen?«
Er war sich selbst unsicher. Es war so viele Jahre her. Und er hatte die Frau an der Tür nur kurz gesehen, bevor sie ihn ausgeknockt hatte. Und später, als sie noch zu ihnen ins Verließ gekommen war, hatte er so gut wie gar nichts erkennen können. Sie hatte im Gegenlicht in der offenen Tür gestanden und ihnen sofort befohlen, sich mit dem Gesicht zur Wand zu drehen.
»Nathalie?« Er sah, dass sie die Augen wieder geschlossen hatte. »Nathalie, komm schon, kann es Sanna gewesen sein?«
»Ich weiß nicht, Theo«, flüsterte sie gequält. Erst jetzt bemerkte er, dass ihr Atem flach und stoßweise ging und der Körper unter seiner Hand schweißnass und glühend war.
»Du hast ja Fieber«, sagte er erschrocken.
Sie öffnete die Augen. »Und wir wissen beide, was das zu bedeuten hat.«
KAPITEL 32
Zwei Einsatzwagen der Polizei durchquerten das schlafende Wilhelmsburg. Dieses Mal wollten sie auf Nummer sicher gehen. Es war inzwischen kurz vor zwei. Auf dem von dichtem Grün umwucherten Papenbrack quakte eine aufgeschreckte Ente. Eine Katze huschte vor ihnen über die Straße, sodass der Fahrer bremsen musste. Ansonsten war alles still.
Sie hatten das Haus von Sannas Großmutter schnell ermitteln können. Der virtuelle Zugriff auf die Grundbuchdatei funktionierte auch mitten in der Nacht. Glücklicherweise hatte es sich um die Großmutter väterlicherseits gehandelt, sodass der Name Sörgel ausreichte, um sie aufzuspüren: In Wilhelmsburg gab es nur einen einzigen Eintrag auf diesen Namen. Die alte Dame, so hatte ein Blick in das Melderegister ergeben, lebte inzwischen offenbar in einem Pflegeheim.
Als sie an dem Haus vorbeifuhren, erinnerte sich Hadice wieder an das Gebäude und auch an die alte Frau, die darin gelebt hatte. Als Mädchen hatte sie sich gewünscht, später in genau so einem Haus wohnen zu dürften.
Es war kleiner als die angrenzenden Häuser. Die pinkfarbenen Mauern waren von Kletterrosen umrankt, die inzwischen wild nach allen Seiten wucherten. Im Garten standen Obstbäume, der Rasen war hoch gewachsen und voller Blumen, sodass die kleine Vogeltränke darin fast verschwand. Die alte Frau hatte bei jedem Wetter draußen gewerkelt, daran erinnerte sich Hadice. Im Herbst trug sie Gummistiefel, im Frühling und Sommer hölzerne Clogs. Das Haar hatte sie stets mit einem Kopftuch aus dem Gesicht gebunden, so wie die Frauen in den Vierzigerjahren es getragen hatten, als Babette Sörgel noch jung gewesen sein musste.
Sie hielten ein Stück weit von dem Haus entfernt. Der Einsatzleiter gab der
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