In sündiger Silvesternacht
so anonym und frei?
Weil sie auf keine der Fragen eine Antwort wusste, redete sie sich ein, dass sie beinahe eine große Dummheit begangen hätte, und versuchte, so zu tun, als ob sie Spaß hatte.
Sie sah Nathan lachen und mit einer anderen Frau tanzen. Danach mit noch einer. Elizabeth trank noch mehr Bier und ließ ihren Blick über seinen großen, kräftigen Körper schweifen, während er sich über die Tanzfläche bewegte oder später entspannt mit einigen Freunden zusammenstand. Sie erinnerte sich an den Ausdruck in seinen Augen und daran, wie er ihre Wange berührt hatte. Dann wieder dachte sie an zu Hause und an all die Male, bei denen sie ihre eigenen Wünsche unterdrückt hatte, um nur ja immer das Richtige zu tun und ein braves Mädchen zu sein.
Ihr fiel der unwirkliche Moment im Kaufhaus Harrods ein, als sie in ihrer Fantasie all die glänzende, teure Perfektion zerstört hatte.
Ich will ihn. Warum kann ich ihn nicht haben?
Es gab Gründe – natürlich gab es Gründe –, aber sie waren nicht gut genug. Sie hingen mit Vernunft und Sicherheit zusammen, doch Elizabeth hatte genau das satt. Sie wollte das Unbekannte! Nur dieses eine Mal. Niemand würde es je erfahren. Es würde ihr Geheimnis bleiben, ihr ganz persönliches, verrücktes Erlebnis.
Sie stellte ihr Glas ab, atmete tief durch und schob sich durchs Gedränge. Nach noch nicht einmal zwei Schritten sah sie, wie Nathan sich von seinen Freunden abwandte und dem Ausgang zustrebte.
Eine Welle der Enttäuschung überrollte sie. Er ging! Das durfte nicht sein, nicht jetzt, wo sie endlich den Mut aufgebracht hatte, ihn um das zu bitten, was sie wirklich wollte. Wenn sie diese Chance verpasste, würde sie vielleicht nie wieder den Mut dazu haben.
Fast verzweifelt folgte sie ihm, aber als sie sich endlich an den letzten Gästen vorbeigedrängt hatte und hastig in den Flur stürzte, war Nathan bereits fort.
Unschlüssig blieb sie stehen. Sie konnte ihm schließlich nicht einfach nachlaufen. Oder? Er hatte sein Interesse signalisiert, sie hatte ihn abgewiesen. Es war vorbei, die Chance vertan.
Ihr Frust war so groß, dass sie, ohne weiter zu überlegen, die Doppeltür aufstieß und nach draußen in die warme Nacht trat. Von Nathan war in beiden Richtungen der Straße keine Spur. Dann blickte sie auf die gegenüberliegende Seite und sah eine dunkle Gestalt den Weg zum Strand einschlagen.
Wie in Trance überquerte sie die Straße und ging bis zur Einmündung des Pfades. Der Mond war von Wolken verhangen, der Strand düster, das Meer glitzerte schwarz in der Ferne. Elizabeth setzte einen Fuß auf den Sandweg, bevor sie wieder stehenblieb.
Was mache ich hier eigentlich?, fragte sie sich. Was dachte sie sich dabei, einem fremden Mann nachzulaufen, nur weil er sie auf gewisse Weise angesehen und gewisse Dinge zu ihr gesagt hatte? Offensichtlich wollte er nach Hause. Sein Interesse an ihr war längst verflogen. Sie sollte umkehren, bevor die Sache peinlich wurde.
Resigniert wandte sie sich ab.
„Betty?“
Sie warf einen Blick über die Schulter. Am Ende des Pfades konnte sie Nathans Silhouette erkennen, eine große, kräftige Gestalt.
Ihr Herz schlug hart gegen ihre Brust. Sie wischte sich die feuchten Handflächen an ihrem Rock ab, ehe sie zu ihm hinunterging.
„Willst du schon nach Hause?“, fragte sie unsicher.
„Nur etwas frische Luft schnappen. Ziemlich warm da drin.“
Was bedeutete, dass sie ihm ganz unnötig wie ein törichter Teenager nachgelaufen war.
„Ich dachte nur … Du hast mich vorhin aufgefordert“, erklärte sie umständlich. „Vielleicht könnten wir nachher, wenn du zurück bist …“
Seine Augen funkelten. „Du möchtest mit mir tanzen, Betty?“
Elizabeth kam sich unglaublich dumm und durchschaubar vor. Die Situation war einfach demütigend. Es hatte schon seinen Grund, dass sie so lange gezaudert hatte. Sie hatte so etwas noch nie gemacht und keine Ahnung, wie sie mit diesem Mann umgehen sollte. Vielleicht hatte sie ihn ja auch völlig missverstanden, und er hatte wirklich nur mit ihr tanzen wollen.
„Vergiss es“, murmelte sie.
Sie wandte sich ab, doch er hielt sie mit einer warmen Hand am Unterarm fest.
„Komm“, sagte er sehr weich.
Behutsam zog er sie an sich. Einen Augenblick lang widersetzte sie sich, weil ihre letzten Zweifel sich meldeten, aber als er mit der anderen Hand ihren Nacken umfasste, hob sie das Gesicht.
Sanft fuhr er mit der Zungenspitze über ihre geschlossenen Lippen, bis Elizabeth
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