In sueßer Ruh
jaulte Butts auf.
»Eure Majestät, bitte gestatten Sie uns zu sprechen.«
Palatine musterte sie kalt, als müsste er ihre Ehrenhaftigkeit abschätzen. Dann sagte er in einem der Welt zutiefst überdrüssigen Ton: »So sprecht denn.«
»In der Nähe Eures Palasts liegt ein großer Felsbrocken«, begann Lee.
»Oh ja!«, unterbrach ihn Palatine. »Ich pflege dort häufig mit meinen Höflingen und meiner Gemahlin hinzugehen.«
»Meint der Typ das ernst?«, flüsterte Butts.
Palatines Blick wanderte nach rechts oben, ein Hinweis, dass er eine Erinnerung abrief. Das Problem bei einem Schizophrenen war allerdings, dass man nicht wissen konnte, ob die Erinnerung echt oder ein Hirngespinst seiner rasenden Phantasie und seines durcheinandergeratenen Verstands war.
»Ich war unterwegs mit meiner Schar – äh, mit meiner Gefolgschaft«, sagte er auf der Suche nach dem richtigen Wort. Die Leute im Obdachlosenasyl der Upper West Side, wo er manchmal unterkam, hatten Lee erzählt, er sei ein ausgezeichneter Schachspieler, wenn er seine Medikamente nahm, und behaupteten, er habe den IQ eines Genies.
Paladine machte eine Pause, in seinem Gesicht arbeitete es. Lee registrierte, dass er zwanghaft mit den Daumen auf seine Finger drückte – eine stoßartige, unbewusste Regung. Er hatte schon andere psychisch Kranke mit ähnlichen Angewohnheiten gesehen. Menschen, die Antipsychotika nahmen, litten an Ticks, die durch das Medikament ausgelöst wurden, was oft dazu führte, dass sie es nicht nahmen. Mitunter war schwer zu sagen, welche Ticks solche Nebenwirkungen waren und welche durch die Krankheit verursacht wurden.
»Und was hat Ihre Gefolgschaft dort gesehen?«, fragte Butts. Das traf zwar nicht ganz den Geist des Spiels, dachte Lee, aber immerhin machte er überhaupt mit.
»Nun, das ist ja das Merkwürdige«, antwortete Paladine. »Wir, äh …« Unvermittelt brach er ab und zupfte überall an sich herum, als würde er von einem Schwarm unsichtbarer Insekten angegriffen. Seine Finger krallten sich in sein Gesicht, und mit seinen rissigen Fingernägeln kratzte er sich neue Striemen in die ohnehin schon schlimm zugerichtete Haut.
Er verfiel in unverständliches psychotisches Gebrabbel. Sein Kopf zuckte, und seine Augen schnellten wild in alle Richtungen, als hielte er Ausschau nach Eindringlingen – ein klassisches paranoides Verhalten. Etwas war gerissen. Vielleicht durch den Stress der Erinnerung selbst – über ein Mordopfer zu stolpern musste für jemanden, dessen Bezug zur Realität ohnehin heikel war, nicht gerade einfach sein. Hilflos sahen Lee und Butts zu, wie Palatine ruckte und zuckte und vor sich hinmurmelte. Ihre Anwesenheit schien er vergessen zu haben.
Psychisch Kranke zu berühren war nie empfehlenswert – schon gar nicht Psychotiker. Lee hatte jedoch den plötzlichen Impuls, den Mann in seinem wahnsinnigen Verhalten zu bremsen. Schnell trat er vorwärts, packte Paladines Handgelenke und presste ihm die Arme fest an den Körper. Mit leiser Stimme sagte er: »Hör auf, Anthony. Alles wird gut.«
Anfänglich wehrte sich Paladine und versuchte, seine Arme wegzuziehen. Seine sehnige Kraft war überraschend, aber Lee war vorbereitet. Er hielt ihn fest, verstärkte den Griff um Paladines Handgelenke und sprach leise auf ihn ein. »Alles in Ordnung, Anthony – Sie können jetzt aufhören. Niemand wird Ihnen etwas tun. Sie sind hier sicher.«
Paladines Körper erschlaffte. Er starrte Lee in die Augen, als lägen alle Antworten auf die Fragen seines Lebens darin. Dann sagte er: »Oben auf dem Granit lag sie, vom Leben geprellt, endlich alles hinter sich. Gesegnet seien die Toten, sie leiden nicht mehr.«
»Was haben Sie gesehen, Anthony?«, fragte Lee.
»Ich sah ihn das Jungfrauenopfer bringen. Rein wie die Tugend, weiß wie der Tod.«
»Haben Sie ihn sehen können?«
Palatine wandte den Kopf ab und schüttelte ihn schnell. »Unterm Mantel der Dunkelheit kam er, und darunter ging er.«
»War er groß, klein, jung, alt? Konnten Sie etwas sehen?«
»Groß. Er war groß und dünn wie ein Kranich, ein Reiher, ein Wasservogel.«
»Haben Sie sein Gesicht sehen können?«
»Nicht richtig, nein.«
»Noch etwas? Haarfarbe, Hautfarbe, irgendwas?«
»Dunkle Haare, weiße Haut. Sehr blasse Haut, die im Mondlicht reflektierte.« Er stockte und kniff die Augen zusammen, um sich zu konzentrieren. »Sie war auch weiß, schneeweiß … maiglöckchenweiß.« Mit zittriger Tenorstimme begann er zu singen: »Down in
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