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In sueßer Ruh

In sueßer Ruh

Titel: In sueßer Ruh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. E. Lawrence
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»neues Ich« eigentlich war. Draußen hatte der Mann fertiggeraucht und schnippte den Stummel weg. Er reckte sich und beugte die muskelbepackten Arme. Auf dem linken Unterarm war ein grinsendes Skelett – ein Totenschädel.
    »Sehen Sie?«, sagte Lee und zeigte auf ihn. »Er ist überall.«
    Dr. Williams drehte sich um und sah zu, wie der Handwerker wieder zurück in die Garage ging. »Vielleicht halten Sie aber auch einfach nur überall nach ihm Ausschau.«
    »Vielleicht«, meinte Lee. »Vielleicht hält er aber auch nach mir Ausschau.« Während er es sagte, lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken.

KAPITEL 19
    McSorley’s Old Ale House – allgemein einfach als McSorley’s bekannt – rühmt sich voller Stolz, die älteste ohne Unterbrechung laufende Kneipe Amerikas zu sein. Es gibt zwar einige ältere – etwa die Fraunces Tavern auf der Pearl Street, in der General George Washington am Ende des Amerikanischen Unabhängigkeitskriegs tränenreich seine Truppen verabschiedet hatte –, doch kein Lokal in New York bestreitet den Anspruch des McSorley’s.
    Man bekam dort nur ein einziges Getränk, nämlich Bier, das jedoch in rauen Mengen. In der hundertfünfzigjährigen Geschichte war Ale das einzige alkoholische Getränk, das ausgeschenkt wurde – auch während der Prohibition, als man das Brauen stillschweigend in den Keller des Gebäudes verlegte, bis das Gesetz 1933 wieder aufgehoben wurde.
    Zufällig lag das McSorley’s auch keine hundert Meter von Lees Haustür entfernt. Abends ging es dort ziemlich laut zu, und die Stimmung war rau. Von den wahllos aufgestellten Tischen schallte Gelächter und Gefluche über den alten, zerschrammten Fußboden, der zunehmend glitschig wurde, wenn sich das Sägemehl mit verschüttetem Bier vollsaugte. Am besten kam man am frühen Nachmittag her, bevor die Horden von Radaubrüdern aus den Stadtvierteln wie Krähen einfielen, kreischend und johlend und entschlossen, sich bis zur Besinnungslosigkeit zu besaufen.
    So saßen Lee und Kathy am frühen Sonntagnachmittag an einem der schweren Eichentische, vor sich zwei Krüge des Gebräus. Draußen war es zu warm, um den alten Kanonenofen anzuwerfen, der an kalten Wintertagen, gefüttert mit einem Klafter Holz, förmlich zu glühen schien. Die schmutzig ockerfarben getigerte Barkatze lag, die Pfoten in die Luft gereckt, ausgestreckt auf einem freien Stuhl dösend auf dem Rücken, taub und blind für klirrende Gläser und das dröhnende Stimmengewirr.
    Denn was die Leute im McSorley’s, außer zu trinken, taten, war reden. Selbst an ruhigen Tagen war es ein geräuschvoller Ort, Gesprächsfetzen schwirrten durch die stehende Luft zwischen den Tischen hin und her. Der Lärmpegel rangierte von einem gleichförmigen Gebrumm bis zum Gejohle und den Lachsalven der Samstagabendgäste, was Lee bei offenem Fenster bis in seine Wohnung hören konnte.
    »Prost«, sagte Kathy und hob ihren Krug.
    »Prost«, erwiderte er, stieß mit ihr an und nahm einen tiefen Zug von dem kupferfarbenen Ale. Bitter und kalt, genau so, wie er es mochte.
    Kathy wischte sich über den Mund und lachte laut auf.
    »Was ist denn so lustig?«, fragte er.
    »Ich habe gerade diese Vogelknochen bemerkt«, sagte sie und deutete auf einige verstaubte sogenannte Gabelbeine, die über der Bar hingen.
    »Sieh dich weiter um, und du wirst noch viel seltsameres Zeug entdecken.«
    »Ich frage mich, wie alt die sind«, meinte sie und betrachtete sie staunend.
    »Warum fragst du nicht, ob du sie untersuchen darfst?«
    Sie stupste ihn gegen die Schulter. »Mafioso, wie?«, sagte sie, wobei sie perfekt einen toughen Gangster aus einem Dreißigerjahrefilm imitierte.
    »Und, was dagegen?«
    Sie ballte eine Faust. »Durchaus nicht, ich sollte bloß –« Dann warf sie den Kopf zurück und lachte. Lee hatte noch nie zuvor jemanden gekannt, der so lebensbejahend wirkte. In einer Phase, als er sich vom Leben zurückgezogen hatte, hatte es sich wie ein Geschenk, wie ein Omen angefühlt, ihr zu begegnen.
    »Mal im Ernst«, sagte er. »Seit wann interessierst du dich für Knochen?«
    »Eigentlich schon immer, seit ich klein war. Ich hab immer Sachen gesammelt, die ich im Wald gefunden habe – Tierschädel, Fossilien, interessant aussehende Steine. Alles Alte und Harte, hat meine Mutter immer gesagt. Ich glaube, mein Vater war enttäuscht, dass ich nicht Toxikologin geworden bin wie er, aber … na ja, du weißt ja, wie das ist.«
    »Und was machst du, wenn du nicht gerade Skelette

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