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In sueßer Ruh

In sueßer Ruh

Titel: In sueßer Ruh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. E. Lawrence
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Wohnung zurückkam, setzte er sich ans Klavier.
    Er klappte den ersten Band von Bachs Wohltemperiertem Klavier auf und nahm das Präludium in d-Moll in Angriff. Die Noten auf der Seite vor ihm tanzten und torkelten, und er bemühte sich, den Fall hinter sich zu lassen und sich auf die Noten zu konzentrieren. Egal, was in seinem Leben passieren mochte, es gab noch immer Bach.
    Die Muster befanden sich alle da auf dieser Seite, dachte er, als er sich in das Präludium in C-Dur versenkte. Die Noten, so ordentlich und akkurat gesetzt, waren fast ebenso schön anzusehen wie zu spielen. Während um ihn die Musik in ihrer geheimnisvollen Würde und Schönheit erklang, kam ihm in den Sinn, dass auch im Wirken des Mannes, den er jagte, alle Muster angelegt waren – wenn er sie nur deuten könnte.
    Er hörte das Prasseln der Regentropfen nicht einmal, während er immer schneller und lauter weiterspielte und seine ganze Frustration und Wut an den Klaviertasten ausließ. Irgendwo hinter diesen Regentropfen schmiedete ein Mörder Pläne. Irgendwo in der zunehmenden Dunkelheit formte sich ein neues Muster in seinem kranken, verdrehten Hirn.

KAPITEL 20
    Die Kapelle des Bestattungsinstituts war riesig, feierlich und düster. Ihr dämmriges Inneres wurde von matt glimmenden Kronleuchtern und Lüstern erhellt, die so schwaches Licht verbreiteten, dass Davey die Gesichter der Umstehenden kaum erkennen konnte. Alle trugen Kleidung in gedeckten Farben – Schwarz, Grau und Schokoladenbraun –, die im Gehen raschelte. Daveys eigener Kammgarnanzug war von so dunklem Blau, dass er im Dämmerlicht schwarz wirkte. Es war wie in der Kirche, bloß schlimmer. Das Gestühl war ekelhaft weiß statt aus dem tiefdunklen Holz in ihrer gewohnten Kirche. Und die leise, trauervolle Orgelmusik kam aus einer Hammondorgel statt aus der großen Pfeifenorgel, die er aus St. Andrews gewöhnt war.
    Am allerschlimmsten war der Geruch. Das mächtige Blumengebinde erregte Übelkeit, anstatt zu trösten, und die von Gardenien- und Lilienduft geschwängerte Luft war förmlich zum Schneiden. Steif stand er da, in seinen neuen, schwarz glänzenden Oxford-Schuhen, seine Zehen wanden sich und zwickten in dem harten Leder. Sein Anzug war genauso einengend, es juckte ihn, und er schwitzte in dem dicken Stoff.
    Er klammerte sich an die Hand seiner Tante Rosa, so fest, dass ihm das scharfe Metall ihres Smaragdrings ins Fleisch schnitt. Es war ihm egal – körperlicher Schmerz machte ihm nicht das Geringste aus. Es war diese andere Art von Schmerz, die er so schrecklich fand, die, die ihm aus dem vom Weinen gezeichneten Gesicht seiner Mutter entgegensah. Er wollte sie so gerne trösten, mehr als alles andere, aber wusste, dass sie sich von niemandem mehr trösten ließ, weder von ihm noch von irgendjemand anderem. Der Zauber war für immer aus ihren Nächten gewichen.
    Er saß in der zweiten Reihe zwischen Tante Rosa und seinem Onkel Glen, einem kugelrunden Mann mit einem Schnauzer wie ein Walross und buschigen schwarzen Augenbrauen, die gereizten Raupen glichen. Onkel Glen schwitzte stark und atmete geräuschvoll durch die Nase, beim Ausatmen gab er dabei leise, pfeifende Töne von sich. Er zog ein Taschentuch aus seiner Westentasche und tupfte sich damit keuchend und pfeifend die Stirn.
    Der Pfarrer erklomm das Podium und setzte in einschmeichelndem Singsang zu einer weitschweifigen, langweiligen Lesung aus der Bibel an. Die Gleichförmigkeit seiner Stimme war so unwiderstehlich wie ein Schlaflied. Daveys Kopf fiel nach vorn, und seine Augenlider wurden so schwer, dass er sie nicht länger offen halten konnte.
    Während er schläfrig in der Kapelle des Bestattungsinstituts hockte, überkam ihn ein anderes, tröstlicheres Gefühl. Verschwommen nahm Davey unsichtbare Dinge wahr, Welten jenseits von der, die er kannte, eingebettet in eine ganz gewöhnliche dreidimensionale Realität wie bei einer russischen Matroschka. Auf der harten Holzbank, die Beine baumelnd, glitt er in einen anderen Bewusstseinszustand hinüber, der sich von dem, den er bisher gekannt hatte, unterschied. Er stellte sich vor, über der Versammlung in der Kapelle zu schweben, schwerelos wie eine Qualle, und auf sie hinunterzusehen, wie sie da saßen in ihren steifen schwarzen Klamotten, eingepfercht in die unnachgiebigen Bänke, erbärmlich und gefangen in ihren irdischen Körpern, während er frei war.
    Wer ihn anschaute, hätte einen kleinen Jungen gesehen, der eingeklemmt zwischen Tante und Onkel

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