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In sueßer Ruh

In sueßer Ruh

Titel: In sueßer Ruh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. E. Lawrence
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döste. Doch in seinem Traumzustand sah Davey gewaltige Schlachten zwischen Gut und Böse, die auf ausgedehnten grünen Feldern ausgetragen wurden, in weitläufigen feuchten Wäldern und an Küsten, an denen Land und Meer in rasendem Zorn und ewigem Kampf aufeinandertrafen. Er träumte von Teufeln und Dämonen, von Feen und Waldgeschöpfen in derart ungewöhnlichen und phantastischen Landschaften, wie sie nur in Träumen vorkommen oder kleinen Kindern einfallen.
    Und dann rüttelte seine Tante Rosa ihn sanft. »Davey, aufwachen. Es ist Zeit, deiner Schwester Lebewohl zu sagen.«
    Vorn in der Kapelle stand ein winziger weißer Sarg, umringt von Unmengen von Blumen, deren Blüten diesen schweren, widerlichen Duft verströmten, den Davey so verabscheute. Er warf einen Blick auf Onkel Glen, dessen dicke Finger einen silbernen Flachmann in seiner Jackentasche liebkosten. Davey wusste, dass, was immer auch er enthielt, sein Onkel diesen Flachmann vor dem Rest der Familie geheim halten wollte.
    Mit vorsichtigem Schritt folgte er Tante Rosa über den weichen weißen Teppichboden nach vorn. Sie reihten sich in die Schlange vor dem Sarg ein, den die Leute mit gesenkten Köpfen umstanden. Einige Frauen schluchzten leise in zart parfümierte Taschentücher. Schließlich war er an der Reihe. Tante Rosa führte ihn an den Rand des Sargs. Er musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um hineinschauen zu können.
    Zitternd sah er auf seine Schwester Edwina hinunter, die so blass und still inmitten der gelben Satinauskleidung lag. Und doch sah sie nicht wirklich tot aus. Ihre Wangen hatten Farbe, mehr als zu ihren Lebzeiten, und ihre Lippen waren so voll und rosig, dass Davey meinte, sie könne jeden Augenblick etwas sagen. Er fand den Anblick sonderbar erregend und spürte ein Kribbeln in der Leiste. Sie sah so hübsch aus, so lebendi g , viel lebendiger als in diesen furchtbaren letzten Wochen ihres Lebens. Er beugte sich über den Rand, um das Gesicht seiner Schwester zu berühren, die Lebenswärme durch ihre bleiche Haut fließen zu spüren. Doch Tante Rosa packte ihn am Handgelenk und zog seinen Arm zurück.
    »Nicht, Davey!«, flüsterte sie und blickte sich um, ob jemand etwas bemerkt hatte.
    Sie nahm ihn fest an der Hand und führte ihn vom Sarg weg nach hinten in die Kapelle, wo der Pfarrer stand und Leute begrüßte, die hinausgingen, um für die lange Fahrt zum Friedhof in ihre Autos zu steigen. Davey geriet plötzlich in Panik bei dem Gedanken, seine Schwester könnte gar nicht tot sein – was, wenn alles ein schrecklicher Irrtum war? Er stellte sie sich begraben in der luftlosen Familiengruft vor, inmitten der zerbröselnden Gebeine ihrer Vorfahren und nur mit Ratten und Würmern als Gesellschaft. Er zog an der Hand seiner Tante. Er musste es ihnen erklären, sie dazu bringen, ihm zuzuhören!
    Seine kindlichen Ängste stießen jedoch auf taube Ohren. Niemand nahm seine Besorgnis ernst. Sogar seine Tante Rosa lächelte ihn nur traurig an und sagte, er solle seiner Mutter zuliebe still sein. Und so fühlte sich Davey erneut von seiner Familie und der Welt beiseitegeschoben.

KAPITEL 21
    Montagmorgen saß Chuck Morton an seinem Schreibtisch, schenkte sich aus seiner Thermosflasche heißen Tee ein und sah zu, wie die Morgensonne über das schmutzige Fenstersims wanderte. Normalerweise trank er um diese Zeit Kaffee, er spürte jedoch, dass eine Erkältung im Anflug war. Er mochte einen schönen, starken Darjeeling – keinen Assam oder Oolong oder, Gott bewahre!, Orange Pekoe –, sondern nur unverfälschten, echten Darjeeling. Ein Männertee. So nannte ihn zumindest seine Frau: Männertee.
    Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln, als er an Susan und ihre schlaftrunkene Verabschiedung heute Morgen dachte. Gewöhnlich stand sie zusammen mit ihm auf und machte ihm Kaffee, heute war er jedoch schon vor dem Wecker aufgewacht. Sie schlief friedlich, den Kopf tief in die Kissen vergraben. Deshalb schlich er hinunter in die Küche und setzte selbst Wasser auf. Er zog sich im Dunkeln an, um sie nicht zu wecken. Für einen gewissenhaften Mann wie ihn kein Problem. Er wusste, wo alles lag, das konnte er blind. Schwach drang frühmorgendliches Licht durch die Ritzen der Rollos, und er wusste, dass es draußen schon heiß war. Das erkannte er an der Beschaffenheit des Lichts, das klar, grell und unbarmherzig war.
    Er schlürfte die heiße Flüssigkeit und spürte sie seine kratzige Kehle hinunterlaufen. Er hoffte wirklich,

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