In sueßer Ruh
unteren Broadway vorbeilief, fühlte sich seine Krankheit selbst an wie eine Erinnerung.
So nannte es Dr. Williams: eine Krankheit. Er dachte an die Erleichterung, die er verspürt hatte, als er diese Worte hörte, und wie sie seine Schuld gemildert hatten. Es stand in so absolutem Widerspruch zu seiner weißen, protestantischen Ostküstenerziehung, die auf Selbstverhätschelung herabschaute. Selbst als er wirklich arbeitsunfähig gewesen war, hatte er diese innere Stimme nicht zum Schweigen bringen können, die ihn anschnauzte: »Herrgott noch mal, reiß dich zusammen!«
Aber da gab es kein Zusammenreißen, nur quälende Monate mit Therapie, medikamentöser Behandlung und am Ende der Klinikeinweisung. »Herauskriechen« wäre eine passendere Beschreibung des Genesungsprozesses gewesen – der bis heute noch nicht abgeschlossen war.
Er erreichte das vertraute graue Steingebäude neben einem Taco-Laden und bestieg den Aufzug, in dem es nach Sperrholz und Knete roch. Er hatte nie herausgefunden, weshalb – vielleicht befand sich ja irgendwo im Gebäude ein Kindergarten. Der Aufzug war leer, als er ihn betrat, doch kurz bevor sich die Türen schlossen, schlüpfte noch eine bekümmert wirkende Frau hindurch, die eine Tragetasche trug. Sie drückte den Knopf für die vierte Etage und drängte sich in eine Ecke des betagten Fahrstuhls, als dieser sich rumpelnd in Bewegung setzte. Dr. Williams und er hatten im Lauf der Jahre Witze darüber gemacht, wie langsam er war, aber jetzt spürte er, wie ihm die Verzweiflung der Frau bis ins Mark drang. Es gab zahlreiche Arztpraxen im Haus, und sie war zweifellos eine Patientin, die vermutlich einer unliebsamen Diagnose entgegensah.
Aus den Augenwinkeln schaute er sie an. Sie war extrem dünn und stark gebräunt – in diesem tiefen Bronzeton, den man im Sonnenstudio erwarb. Sie trug flache Sandalen mit schmalen goldfarbenen Riemen, eine limettengrüne Leinenhose und darüber eine weite weiße Baumwollbluse. Er fragte sich, ob ihre Magerkeit Absicht oder die Folge einer Chemotherapie war. Sie hatte einen abgehärmten Zug um den Mund, wie er es bei Aids- und Krebspatienten gesehen hatte. Er vermied es, sie direkt anzusehen, und war erleichtert, als sie ein Stockwerk vor ihm ausstieg. Sie glitt in den Flur hinaus und zog ihr Unglücklichsein hinter sich her wie einen Kometenschweif.
Lee holte tief Luft und stieß sie wieder aus, auf diese Weise befreite er sich von der Beklemmung, die die Frau in ihm ausgelöst hatte. So war es schon immer bei ihm gewesen. Sogar als Kind hatte er sich ungewöhnlich auf die Stimmungen anderer Menschen eingestellt. Er neigte dazu, die Gefühlsverfassung anderer zu übernehmen, ob er es wollte oder nicht. Außerdem war er gut darin, Menschen einzuschätzen und ihr Inneres auszuloten – ihre Begierden, ihre Stärken, ihre Schwächen, ihre Bedürfnisse.
Mit den Jahren hatte er aus seiner Begabung ein Handwerk gemacht. Zunächst als Psychiater, später dann als Profiler nutzte er seine angeborene Fähigkeit für seinen Beruf. Er lernte ständig dazu und verfeinerte sein Wissen über die menschliche Natur. So hatte er im Lauf der Zeit festgestellt, dass die Gesichter von Menschen dazu tendierten, in verschiedenen charakteristischen Ausdrücken zu erstarren, die ihr Seelenleben widerspiegelten – eine Art umgekehrtes Bildnis des Dorian Gray. Einen verbitterten, schlecht gelaunten Mann zeichneten demnach tief gefurchte Stirnfalten und heruntergezogene Mundwinkel aus, Züge, die sich mit zunehmendem Lebensalter immer stärker ausprägten. Entsprechend hatte eine fröhliche, freundliche Frau ein gewohnheitsmäßiges Lächeln auf den Lippen.
Er wusste allerdings auch, dass eine äußerst aufgebrachte Frau ein Lächeln aufsetzen konnte, um ihre uneingestandene, sozial inakzeptable Wut zu überspielen. Und doch würde sich diese Anspannung irgendwo zeigen, in einem Zusammenkneifen der Augen, einer gewissen Schulterspannung, abgeknabberten Fingernägeln. Wenn es bei Lee richtig »Klick« machte, war er sich nicht bewusst, dass er überhaupt irgendwelche bestimmten Zeichen wahrnahm – es war vielmehr so, dass er einen direkten Einblick in die Seele eines Menschen hatte, ein instinktives Erfassen seines Innersten. An einem guten Tag sah er hinter die aktuelle Stimmung eines Menschen auf die tiefer liegenden Seiten einer Person – ob dieser Mensch nun entgegenkommend oder feindselig war.
Bei Fotografien konnte er sich gelegentlich irren, mitunter auch bei
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