In sueßer Ruh
Peter.
»Was tun Sie denn beruflich?«, fragte sie. Die Veranstaltung machte ihr mehr Vergnügen, als sie erwartet hatte.
»Ich bin Experte für Computerkriminalität, also Identitätsdiebstahl und so. Und Sie?«
»Forensische Anthropologie.«
»Ah ja, die Knochenlady.«
Sie spürte, wie ihr die Hitze den Hals hinaufkroch. Glücklicherweise kaschierte ihr olivenfarbener Teint einen Großteil ihrer Gefühlsreaktionen, unter anderem Erröten. Armenische Vorfahren zu haben hatte auch sein Gutes.
»Genau«, sagte sie. »Ich bin noch keinem Skelett begegnet, das ich nicht mochte. Sie habe ich noch nie bei einem Vidocq-Treffen gesehen. Sind Sie Mitglied?«
»Ich werde für eine Mitgliedschaft in Betracht gezogen, genau genommen.«
»Oh, das ist großartig.«
»Sind Sie Mitglied?«
»Nein, aber mein Vater.«
Die Vidocq Society war eine Gesellschaft forensischer Experten, benannt nach dem im 18. Jahrhundert lebenden Kriminellen Eugène François Vidocq, der später Polizist wurde und den viele als Begründer der modernen Ermittlungsarbeit ansehen. Die Gesellschaft bestand immer aus genau zweiundachtzig Mitgliedern, eines für jedes von Vidocqs Lebensjahren, und der Beitritt erfolgte ausschließlich auf Einladung. Sie hatte sich der Lösung alter Kriminalfälle verschrieben, welche ihr aus aller Welt sowohl von Strafverfolgungsbehörden wie von Privatleuten angetragen wurden.
»Wer ist Ihr Vater?«
»Antrias Azarian.«
»Der Pathologe? Hoppla – er ist legendär!«
Kathy lachte. »Sagen Sie das bloß nicht in seiner Gegenwart. Er sieht sich nicht gern als jemanden, der alt genug ist, um legendär zu sein.«
»Wie wohltuend – ein Mann mit Eitelkeit«, erwiderte Peter. »Sieht so aus, als könnten Sie noch einen Drink vertragen. Was ist Ihr Gift?«
»Cuba Libre. Danke.«
Kathy beobachtete ihn, wie er sich durchs Gedränge schlängelte, und war schließlich doch froh, heute Abend hergekommen zu sein. Ihre Zukunft trieb vor ihr, undeutlich und verheißungsvoll wie der neblige Regen, der die Straßen von Philadelphia einhüllte.
KAPITEL 35
Davey lief durch den Wald und saugte dessen Stille und Zauber in sich auf. Der Wald besaß eine unersetzliche Pracht. Die Bäume schienen uralte weise Wesen zu sein, die Jahrhunderte vor uns von Dingen wussten, die er nur ahnen konnte. Er versuchte, ihnen zuzuhören und diese menschlichen Dinge zu vergessen, die Menschen wussten. Er wünschte sich, so zu denken wie die Bäume, die überall um ihn herumstanden, still, wachsam und geheimnisvoll. Sie befinden sich im Zentrum von allem, dachte er, und die Menschen kreisen an der Peripherie herum wie verirrte Monde, gefangen in der Schwerkraft des Planeten dahinter.
Aus seiner Tasche zog er das Paar Chirurgenhandschuhe aus Gummi und versteckte es unter einem Haufen Laub. Er hätte es auch einfach irgendwohin werfen können, aber er musste vorsichtig sein – sehr vorsichtig. Die Kleider, die er trug, als er sich sein letztes Opfer vornahm, hatte er schon abgebraust und verbrannt. Er hatte sich ausführlich über Spurensicherung belesen und wusste, dass man nie vorsichtig genug sein konnte. Er bedeckte die Handschuhe mit dem toten Laub und setzte seinen Fußmarsch fort.
Auf dem Land erwachte der Wald am Ende des Tags zum Leben. Nachtgeschöpfe machten andere Geräusche als Taggeschöpfe – rätselhafte Geräusche, Rascheln und Knarren, lang gezogene, leise Pfiffe oder Schnattern und Knacken. Die Nacht hatte ihre eigenen Bewohner, ihren eigenen Rhythmus und Zauber.
Er blieb stehen, um dem unverkennbaren Whohu-buhooh-whohu-buhooh eines Streifenkauzes zu lauschen, den er von den Wochenendbesuchen bei seiner Tante Rosa kannte. Er besuchte sie gern, sie war das einzige Familienmitglied, bei dem er immer das Gefühl hatte, sie höre ihm wirklich zu. Aber auch ihr ging es nicht gut. Kürzlich war Leukämie bei ihr diagnostiziert worden, noch so eine Blutkrankheit.
So waren alle in seiner Familie gestorben – es war ihr Fluch. Sein Vater an einem Blutgerinnsel beziehungsweise einer dadurch ausgelösten Gehirnblutung und seine Mutter … nun, sie war nach dem Tod seiner Schwester mehr oder weniger verkümmert. Er war entschlossen, nicht das gleiche Schicksal zu erleiden wie alle anderen in der Familie. Als seine Tante erkrankte, hatte er sich auf die Suche nach Blutspendern gemacht – so nannte er sie für sich. Sie waren nicht seine Opfer, sondern seine Spender. Aus diesem Grund hatte er auch die Ausbildung zum
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